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Inhalt

 

Therapie der Migräne

J. Rainer, Neurologie

Migräne ist eine Erkrankung, die in Attacken auftritt; Intensität, Frequenz und Dauer der Kopfschmerzen variieren deutlich. Der Kopfschmerz ist meist halbseitig, oft mit wechselnder Seite, sehr häufig begleitet von Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen, Photo- und Phonophobie und nicht selten auch von neurologischen Ausfällen. Die Dauer der einzelnen Attacken kann mehrere Stunden bis zu drei Tage betragen. Die Frequenz der Attacken beträgt von einmal alle paar Tage bis zu weniger als einmal pro Jahr. Im Durchschnitt allerdings treten die Attacken mehrere Male Pro Monat auf. Zwischen den Attacken ist der Patient schmerzfrei, in eher seltenen Fällen kann die Migräne als Status migränosus tagelang dauern. Je nach den Einschlußkriterien tritt die Migräne bei zwischen 2 % und 20 % der Bevölkerung auf, wobei Frauen fast zweimal so häufig wie Männer betroffen sind. Sie tritt familiär gehäuft auf. 
Es gibt verschiedene, teilweise sich sogar widersprechende Theorien über die Pathophysiologie der Migräne (1). Die ursprüngliche "Gefäßtheorie" postuliert, daß es durch eine kurzfristige Anhebung des Serotoninspiegels zu einer Vasokonstriktion der intrakraniellen Gefäße kommt, die dann die Aura als neurologische Symptomatik verursacht. Die charakteristische klopfende Eigenschaft des Kopfschmerzes im Migräne-Anfall würde dann auf einer Vasodilatation von extracerebralen Gefäßen beruhen, die als reaktive Hyperämie erklärt wird. Die neurale Theorie postuliert eine gestörte Aktivität der serotoninergen (möglicherweise auch der noradrenergen) Neurone im Hypothalamus. Ist die Erregbarkeit dieser Neurone z. B. durch Streß oder durch Hormone erhöht, kann eine Serotoninausschüttung entlang ihrer Projektionen zum Kortex eine sog. "spreading neuronal depression" des Kortex initiieren, die für das Prodrom der klassischen Migräne, das Flimmerskotom, verantwortlich ist. Die Stimulation des Raphe- und Locus coeruleus Kernes bewirkt eine Veränderung im endogenen Schmerzkontrollsystem. Der Schmerz wird über die Trigeminusbahn zum Thalamus und weiter zum Kortex übertragen.
In jüngster Zeit wird auch versucht, beide Theorien zu kombinieren (1): Zuerst soll eine Stimulation der monoaminen (Serotonin?) Zentren des Mittelhirns einsetzen, getriggert durch externe Faktoren oder aber in einem Spontanzyklus auftretend. Dies führt einerseits zur neurologischen Symptomatik, andererseits über neuronale Bahnen zu einer Vasodilatation der extracerebralen arteriovenösen Shunts. Die Erweiterung dieser Gefäße führt zu einer sterilen Entzündung und verursacht so den Schmerz (1). Außerdem werden Neurone aktiviert, die über die chemorezeptorischen Triggerzonen und den Hypothalamus zu Übelkeit, Erbrechen, Enterostase, fallweise auch zu Photophobie führen. Insgesamt muß jedoch festgestellt werden, daß der genaue Pathomechanismus der Migräne bis dato nicht zufriedenstellend verstanden wird. 
Diese nach wie vor bestehende Unsicherheit, das genaue Verständnis der Migräne-Pathologie betreffend, macht verständlich, daß auch die Therapie dieser Erkrankung keine einheitliche und allgemein gültige sein kann. Trotzdem wurden in den letzten Jahren zum Teil sehr gut wirksame Mittel zur Therapie der Migräne entwickelt (2, 3, 4).

Für die Akuttherapie des Migräneanfalles stehen primär folgende Substanzen zur Vefügung:

 

Ergotaminpräparate

Das klassische Präparat ist Ergotamin (Ergotartrat; mit Coffein: Cafergot, Pansecoff; mit Coffein und Parasympatholytica: Caferfot compositum; mit Parasympatholytika: Ergotropal; Coffein und Antihistaminica: Migril, Synkapton). 
Dieses Medikament sollte möglichst zu Beginn des Anfalles angewendet werden, da bei späterem Einsatz der Anfall kaum noch durchbrochen werden kann. Da die Nebenwirkungen besonders bei langdauernder und höherer Dosierung gefährlich sind (Ergotismus mit Gangrän im Extremitätenbereich und Coronarspasmen), sollte eine genaue Überwachung der Therapie erfolgen. Eine Kombination mit Coffein ist zweckmäßig, da dadurch die enterale Resorption von Ergotamin gesteigert wird. Die Zugabe von Belladonna-Alkaloiden und Antihistaminica soll antiemetisch wirken. Zusätzliche Kombinationen mit Analgetica, Tranquilizer und/oder Spasmolytica sind nicht zweckmäßig, weil das Nebenwirkungspotential dann nicht mehr nachvollziehbar wird und meist auch eine unterschiedliche Kinetik der Einzelkomponenten vorliegt (Avamigran). Neben der oralen Gabe ist die Applikation in Suppositorienform wegen der Möglichkeit des Erbrechens während der Migräne besonders günstig. Ein Problem bei der Anwendung dieser Medikamentengruppe ist die Neigung des Patienten zur Gewöhnung und damit die Gefahr des bereits erwähnten Erogtismus (bis zum Ergotaminkopfschmerz). Mit gutem Erfolg kann ein Patient den Ergotaminentzug mit Naproxen (Proxen, s.u.) überwinden (5). Dihydroergotamin (Präparate s. u.) ist im akuten Anfall bei oraler oder rektaler Gabe nicht so wirksam (2).
In schweren Fällen und im schon fortgeschrittenen Migräneanfall wirkt eine subcutante oder intramuskuläre Injektion mit Dihydroergotamin (zur Injektion: Dihydergot Sandoz) oder Ergotamin (in Österreich zur Injektion nicht erhältlich). Um die bereits durch den Anfall vorhandene und durch das Mutterkornalkaloid noch verstärkte Übelkeit zu mindern, ist eine zusätzliche Gabe von Metoclopramid (Paspertin, Gastronerton, Gastrosil, Hexaclamid, Gastro Timelets, Nausigon, Pertin), Domperidon (Motilium) oder Cisaprid (Prepulsid, Pulsitil) zu empfehlen. Metochlopramid hat den Vorteil, als Suppositorium (auch Domperidon) erhältlich zu sein, allerdings den Nachteil (weniger bei Domperidon) gelegentlich, insbesondere bei Kindern, ein dyskinetisches Syndorm auszulösen (Pharmainfo V/3/1990), während Cisaprid (Prepulsid, Pulsitil) leider nicht in Zäpfchenform erhältlich ist, dafür aber keine dopaminrezeptorblockierende Eigenschaft (daher keine Auslösung von Dyskinesien) aufweist (Pharmainfo VI/3/1991)

 

Analgetica

Im angloamerikanischen und in zunehmendem Maße auch im zentraleuropäischen Raum wird Acetylsalicylsäure (Acimetten, Aspirin, Aspro, +Generica) oder aber Paracetamol (Apacet, Mexalen, Momentum, +Generica) oft in Kombination mit den vorhin erwähnten gastrointestinal-pro-kinetisch wirkenden Pharmaka (Metochlopramid, Domperidon, Cisaprid) zur Reduktion der Stase im Magen und der dadurch bedingten Resorptionsverzögerungen, bzw. auch des Erbrechens, der Vorzug gegeben. Auch diese Kombination sollte möglichst zu Beginn des Migräneanfalles, am besten schon im Prodromalstadium, eingenommen werden.
Auch für Naproxen (Proxen) ist belegt, daß es bei vielen Migränikern gut anfallskupierend wirkt (3). Zahlreiche Kombinationspräparate dieser Analgetica, auch wenn sie mit migräne-assoziierenden Namen versehen sind (z.B. Migradon) haben keinen Therapievorteil (siehe Pharmainfo II/1/1987). 
In jüngster Zeit wird eine derzeit noch nicht registrierte Substanz (Sumatriptan) offensichtlich erfolgreich getestet. Bei diesem Medikament handelt es sich um ein neues Therapiekonzept, mit einem selektiven 5-Hydroxytryptamin-1-Rezeptor-Agonisten (5HT1D). Wir werden für dieses neue Medikament eine gesonderte, ausführliche Wertung bringen.

Die Intervall- oder prophylaktische Therapie hat als Therapieziel eine Minderung sowohl der Anfallsfrequenz als auch der Intensität der Anfälle. Eine Indikation für die Intervallsbehandlung besteht dann, wenn wengistens zwei Anfälle pro Monat auftreten oder außerodentlich heftige und lang anhaltende Symptome bestehen. Abgesehen von der Gabe von Medikamenten ist auch die Ausschaltung auslösender Faktoren (Alkohol, Schokolade, verschiedene Käsesorten, Nikotin, orale Antikonzepztiva) zu überlegen.

 

Betablocker

Für Betablocker (siehe Pharamainfo I/1/1986) ohne intrinsische Aktivität ist die Senkung der Anfallsfrequenz in zahlreichen Studien belegt (6), insbesondere für Propranolol (Inderal) Metoprolol (Beloc, Lopresor) aber auch Timolol (Blocadren) und vermutlich auch Atenolol (Tenormin, Atenolan, +Generica). Die Wirkung auf die Dauer und die Intensität trotz Prophylaxe auftretender Attacken ist weniger gut dokumentiert. Eine positive Wirkung wird meist innerhalb von vier Wochen gesehen, eine Prophylaxe sollte sich zumindest auf vier bis sechs Monate erstrecken. Bei Anwendung von Betablockern ist unbedingt auf internistische Kontraindikationen zu achten. Patienten mit ausgeprägter Bradykardie, cardialer Insuffizienz sowie AV-Überleitungsstörungen, obstruktiven Lungenerkrankungen bzw. Asthma bronchiale sollten von einer derartigen Behandlung ausgeschlossen werden. Nebenwirkungen wie Müdigkeit, gelegentlich Schwindel sowie auch Paraesthesien und Kältegefühl an den Akren werden beobachtet.

 

Calciumkanalblocker (Calciumantagonisten)

In dieser Substanzgruppe erscheint nur für Flunarizin (Amalium, Sibelium) eine Wirkung sicher belegt, während für Nifedipin (Adalat, Fedip, Gewadilat) un Nimodipin (Nimotop) dies, nach anfänglich positiven Berichten, nicht mehr der Fall zu sein scheint (4, 6). Dies spricht auch dagegen, daß für die Wirkung die Beeinflussung des Calciumkanals entscheidend ist. Unter Flunarizin kommt es bei relativ vielen Patienten zu Müdigkeit und Mundtrockenheit; als besonders unerwünscht findet sich eine beträchtliche Gewichtszunahme (7). In den letzten Jahren wurde vermehrt über Depression und insbesondere über extrapyramidale Störungen (Rigor, Tremor, Dystonien, orofaziale Dyskinesien) berichtet (8). Diese Symptome traten bei höheren therapeutischen Dosen, vor allem bei älteren Leuten und nach mindestens wochenlanger Behandlung auf. Sie bildeten sich nach Absetzen meist zurück, hielten aber z. T. über Monate an. Diese Nebenwirkungen haben in Deutschland zu einer Indikationseinschränkung auf vestibulären Schwindel und therapieresistente Epilepsieformen geführt (8, siehe auch Pressedienst des Deutschen Bundesgesundheitsamtes, 28.2.1991). Es dürfte daher bei der Migräneprophylaxe zweckmäßig sein, die Indikation streng zu stellen, insbesondere bei älteren Patienten zurückhaltend zu sein, möglichst niedere Dosen zu geben und über einen möglichst kurzen Zeitraum.

 

Serotoninantagonisten

Methysergid (früher Deseril) war ein gut wirksames Basistherapeutikum, wurde aber wegen der mehrfach als Nebenwirkung beobachteten Retroperitonealfibrose aus dem Handel gezogen. Pizotifen (Sandomigran) verbleibt daher als Mittel aus dieser Substanzgruppe. Es ist ein Serotonin-Rezeptoren-Blocker, der die pathologisch veränderte Gefäßmotorik normalisieren soll. Die Dosen sollten einschleichend gesteigert werden, eine Kontraindikation besteht bei Prostatahypertrophie und Engwinkelglaukom. Als Nebenwirkungen können Sedierung, Schwindel, Übelkeit, Gewichtszunahme sowie verminderte Reaktionsfähigkeit auftreten. 
Das dihydrierte Secale-Alkaloid Dihydroergotamin (Adhaegon, Detemes Retard, Dihydergot Sandoz, Divegal, Ergont, Ergovasan) zeigt ein komplexes pharmakologisches Profil insofern, als daß es eine Affinität zu alphaadrenergen als auch zu serotoninergen Rezeptoren besitzt mit sowohl stimulierenden als auch blockierenden Eigenschaften. Die Effektivität in kontrollierten Studien ist aber weniger als bei den anderen Substanzen belegt (3). Eine Nebenwirkung im Sinne von Ergotismus ist in therapeutischer Dosierung selten (2). Patienten mit Gefäßerkrankungen (coronare und periphere Durchblutungsstörungen) sollten aber nicht behandelt werden (3a).

 

Antiphlogistica

Naproxen (Proxen) wurde auch zur Prophylaxetherapie für zwei bis drei Monate verabreicht, wobei die Wirkung schwächer als bei den oben besprochenen Substanzen sein dürfte (3). Naproxen verwendet man mit gutem Erfolg besonders bei zeitlich an die Menstruation gekoppelten Migräneattacken, indem man sechs Tage vorher mit der Gabe einsetzt (5). Wegen der noch beträchtlichen gastrointestinalen Nebenwirkungen ist allerdings eine prophylaktische Therapie mit Naproxen und anderen nicht steroidalen Antihlogistica problematisch.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigte, daß eine Gabe von 325 mg Acetylsalicylsäure (Acimetten, Aspirin, Aspro, +Generica) jeden zweiten Tag, die Anfallsfrequenz, allerdings nur um 20%, verminderte (9).

 

Amitriptylin (Saroten, Tryptizol)

Vor allem wenn Migärne mit Spannungskopfschmerz verbunden ist, soll diese Substanz bei einigen Patienten akut oder prophylaktisch therapieverbessernd wirken (2).

 

Clonidin (Catapresan, Catanidin) 

Eine Wirkung bei Migräne ist nicht sichergestellt (10)

 

Wirkungsvergleich

Für die Migräneprophylaxe wurden zwischen Betablockern, dem Calciumkanalblocker Flunarizin und Serotoninantagonisten keine deutlichen Unterschiede in der Wirkung gefunden (3, 4, 6, 7). Eine Risiko/Nutzenabwägung läßt Betablocker als Mittel der ersten Wahl erschienen, gefolgt von Serotoninantagonisten und Flunarizin (2, 3, 4).

 

Zusammenfassung

Für den akuten Migräneanfall stehen insbesondere Ergotamin und Analgetika (Acetylsalizylsäure, Paracetamol, und Naproxen) zur Verfügung. Eine zusätzliche wertvolle Ergänzung könnte durch Sumatriptan erfolgen (siehe nächste Pharaminfo). Für die Prophylaxe sind Betablocker ohne intrinsische Aktivität,Serotoninantagonisten und bei strenger Indikationsstellung der Calciumkanalblocker Flunarizin (Amalium, Sibelium) von belegter Wirksamkeit. Weiters sollte nicht vergessen werden, daß Analgetica- und auch Ergotamin-Mißbrauch Kopfschmerzen auslösen kann.

Literatur:
(1) TIPS 10, 1, 1989
(2) DMW 113, 737, 1988
(3) J. Neurol. 238, S.23, 1991
(3a) Arch. Neurol. 13, 174, 1986
(4) J. Neurol. 238, S. 28, 1991
(5) Drugs 37, 755, 1989
(6) Drugs 39, 355, 1990
(7) Drugs 38, 481, 1989
(8) Pharmakritik 13, 21, 1991
(9) JAMA 264, 1711, 1990
(10) Drug & Ther. Bull. 28, 79, 1990

 

Geriatrica

Cinnarizin (Stutgeron, Cinnabene, Pericephal
+Etamivan: Cinnarplus)

Diese Substanz wird u.a. auch für verminderte Merkfähigkeit, Konzentrationsmangel und bei zerebralen Durchblutungsstörungen empfohlen, und wir diskutieren hier nur die "geriatrische Indikation".
Das Transparenztelegramm spricht von einem "zweifelhaften Therapieprinzip" (siehe auch 2, 3). Für das chemisch und wirkungsmäßig sehr ähnliche Flunarizin (Amalium, Sibelium) hat das Deutsche BGA kürzlich festgestellt (BGBl. 1991, S.11): "Die in Tierversuchen mit Flunarizin beobachteten antiischämischen Wirkungen konnten in klinischen Prüfungen am Menschen nicht bestätigt werden." Andererseits kann es bei dieser Substanz (und auch unter Cinnarizin) zum Auftreten von Parkinson- Symptomen kommen. Eine Verwendung dieser Substanzen als Geriatrica erscheint daher unzweckmäßig. Flunarizin ist für diese Indikation auch nicht mehr zugelassen. Für die Mirgänetherapie (siehe oben) ist Flunarizin aber wirksam und daher mit entsprechender Vorsicht einsetzbar.

Literatur:
(1) Transparenztelegramm 1990/91, S. 461
(2) Drugs 26, 44, 1983
(3) Arzneitelegramm 1989, S 42

 

Kavain (Mosaro, in Kavaform, Kavavit)

Kavain entstammt dem "Rauschpfeffer" (Piper methysticum). Diese Droge wird von den Eingeborenen Ozeaniens als "soziale Droge" zur Entspannung und Angstlösung und auch als Psychostimulans verwendet (1). Im Tierversuch bewirken die Kava-Wirkstoffe Sedation (2), beim Menschen steht diese (einschließlich einer gewissen anxiolytischen und schlafreduzierenden Wirkung) ebenfalls im Vordergrund, es wurde aber auch über Nervosität, Schwitzen und verzögertes Einschlafen berichtet (3, 4, 5, 5a). Dem Präparat wird aber auch, und das würde für die Anwendung als Geriatricum notwendig sein, eine Verbesserung der Merk- und Konzentrationsfähigkeit zugesprochen. Für diese Wirkungen liegen nur wenige auswertbare (doppelblinde) Daten vor, und diese sind widersprüchlich. So wird über eine Verkürzung der Reaktionszeit (6) oder über keinen Effekt (7) durch Kavain berichtet. In einer Studie wird über Verbesserung der Gedächtnisfunktion und Daueraufmerksamkeit nach drei Wochen Behandlung berichtet (allerdings ohne Angabe der genauen Daten), eine andere Studie (9) wollte dies (Daten ebenfalls nicht nachvollziehbar) erst nach fünf Monaten gesehen haben.
Zusammenfassung:
 Der Wirkstoff Kavain dürfte meist sedierende und damit auch spannungslösende Eigenschaften haben, zur Belegung einer spezifisch geriatrischen Wirkung reichen die Daten nicht aus.

Literatur:
(1) Lancet, I, 258, 1988
(2) Arch. Int. Pharm. 88, 505, 1963
(3) Münchn. Med. Wschr. 112, 154, 1970
(4) Münchn. Med. Wschr. 42, 2197, 1967
(5) Münchn. Med. Wschr. 131, 656, 1989
(5a) Zschr. d. Allgemeinmed. 62, 1028, 1986
(6) Prakt. Arzt 33, 399, 1979
(7) Therapiewoche 27, 9417, 1977
(8) Med. Klinik 72, 130, 1977
(9) Zschr. d. Altersforschung 29, 311, 1975

 

Nimodipin (Nimotop)

Nimodipin ist eine lipophile Substanz, die insbesondere die L-Typ-Kalziumkanäle im Zentralnervensystem blockieren kann (1). In der Pharmainformation II/3/1987 hatten wir für diese Substanz festgestellt, daß sie die nach Subarachnoidalblutung auftretenden Gefäßspasmen blockieren und damit durch diese Spasmen ausgelöste neurologische Ausfälle verhindern kann. 
Wir hatten damals bereits Ansätze erwähnt, das Indikationsgebiet für diese Substanz zu erweitern. Aufgrund von Tierversuchen wurde postuliert, daß Nimodipin ischämische Schäden bei Durchblutungsstörungen reduzieren kann (1, 2). Nach ersten positiven Befunden bei Schlaganfallpatienten liegt nun auch eine große Studie für diese Indikation vor. Eine Gruppe von 1215 Patienten wurde innerhalb von 48 Stunden nach einem Schlaganfall entweder mit Plazebo oder mit Nimodipin behandelt und nach sechs Monaten auf neurologische Ausfälle und Mortalität untersucht (2). Es ergab sich gegenüber Plazebo kein positiver Befund. Ähnlich negative Resultate (betreffend Mortalität und neurologische Ausfälle) wurden für einen weiteren Kalziumkanalblocker, dem Lidoflazin, bei Patienten, die einen Herzstillstand mit Gehirnischämie überlebten, erhoben (3). Diese negativen Befunde bei Schlaganfall dürften auch mit neueren pathophysiologischen und pharmakologischen Erkenntnissen in Einklang stehen. Man ist zwar immer noch der Ansicht, daß eine erhöhte Kalziumkonzentration in der Nervenzelle, wie sie im Rahmen vieler Schäden auftreten kann, negative Effekte haben kann. Kalzium kann aber nicht nur über den durch Nimodipin gehemmten L-Typ-Kanal, sondern auch durch den von dieser Substanz nicht beeinflußten N-Typ-Kalziumkanal eintreten. Weiters erscheint der vom wichtigsten erregenden Überträgerstoff des Gehirns, der Glutaminsäure, regulierte Kanal für vermehrten Kalziumeintritt von Bedeutung zu sein. Tatsächlich werden auch schon Hemmer dieses Kanals bei ischämischen Zuständen getestet. Auf jeden Fall dürfte für Nimodipin ein positiver Effekt bei Schlaganfällen nicht zu erwarten sein, so daß auf diesem therapeutisch bis jetzt so wenig erfolgreichen Gebiet ein Durchbruch immer noch nicht in Aussicht ist.
Wie ist aber nun die Gabe von Nimotop bei zerebralen Funktionsstörungen insbesondere im Alter zu bewerten?

Laut Austria-Kodex ist diese Substanz bei Hirnleistungsstörungen im Alter (hirnorganisches Psychosyndrom vaskulärer oder degenerativer Genese) indiziert. Was einer solchen Wirkung zugrunde liegen könnte, ist schwierig zu beantworten. Der Kalziumeinstrom in die Nervenzelle ist, wie oben ausgeführt, komplex geregelt. Für die Sekretion von Neurotransmittern ist primär der N-Typ der Kalziumkanäle, der von Nimodipin nicht beeinflußt wird, zuständig.
Effekte an Gefäßen erscheinen unwahrscheinlich, weil gefäßaktive Substanzen sich bis jetzt als Geriatrika nicht bewähren konnten. Wie dem auch sei. In Tierversuchen hat Nimodipin positive Effekte auf das Lernverhalten gezeigt, bei alten Ratten wurde unter anderem eine Verbesserung der sensomotorischen Funktionen erhalten (1, 4). Für die klinische Bewertung einer geriatrischen Wirkung liegen einige ernstzunehmende Doppelblindstudien vor, aber auch viele Daten, die nur in Abstrakts veröffentlicht oder auch mehrfach publiziert und diskutiert wurden und damit nicht an Gewicht gewinnen. All diesen Studien ist gemeinsam, daß bis auf eine Ausnahme jeweils nur für zwölf Wochen getestet und eine Dosis von dreimal 30 mg pro Tag verabreicht wurde.
In einer italienischen Studie (5) wurden 178 Patienten mit Multiinfarkt und primärdegenerativer Demenz untersucht. In allen psychometrischen Globalskalen wurden signifikante Verbesserungen gesehen, die psychometrischen Ausgangswerte waren aber meist überraschend unterschiedlich, so daß zwar signifikante Verbesserungen in der Verumgruppe auftraten, die Endpunkte sich aber kaum von der Plazebogruppe unterschieden. In zwei weiteren Studien (197 Patienten:6, 130 Patienten:7) wurden bei gleicher Demenzursache ebenfalls signifikant positive Resultate erzielt. Aber auch hier sind Ungereimtheiten zu bemerken, wenn z. B. (7) in der Plazebogruppe das Alter 67-84 Jahre, in der Verumgruppe aber 61-83 Jahre beträgt und diese Gruppe damit deutlich jüngere Patienten einschließt. Letztlich wird noch in einer Studie in der Praxis (8) über eine signifikante Verbesserung der Gedächtnisfunktion berichtet, wobei sich aber auch hier die Endpunkte in der Verum- bzw. Plazebogruppe nur unwesentlich unterscheiden. Diesen zwar nicht eindeutigen, aber zumindest von den Autoren positiv bewerteten Studien stehen auch deutlich negativere Daten gegenüber. In einer Studie war bei Multiinfarktdemenz nach 24 (!) Wochen weder durch klinische Tests, noch durch NMR eine Besserung nachweisbar. Da in diese Studie nur 20 Patenten eingeschlossen waren, ist dieses Resultat allerdings nicht überzubewerten (8). Zwei weitere Studien befassen sich mit einem definierten Krankengut der Alzheimer Erkrankung. In einer Studie (9) wurden mit 30 mg Nimodipin dreimal täglich einzelne positive Effekte bei psychometrischen Tests gesehen, bei der höheren Dosis (dreimal 60 mg) waren diese aber verschwunden. Dies, wie das diese Autoren tun, als therapeutisches Fenster (9) zu interpretieren und nicht als Ausdruck einer unverläßlichen Wirkung, erscheint nicht vertretbar. Insbesondere deshalb nicht, weil auch eine zweite Studie an 234 Alzheimerpatienten (10) mit den gleichen beiden Dosen nur in einer von 33 Meßgrößen eine signifikante Besserung sehen konnte. All diese vorliegenden Studien sind über einen zu kurzen Zeitraum durchgeführt worden. Halbwegs verläßliche, klinisch und sozial relevante Daten brauchen Langzeitstudien bis zu einem Jahr. Obwohl erfahrungsgemäß (z. B. bei lange im Handel befindlichen Geriatrika feststellbar) am Beginn einer neuen Indikation für ein Medikament positive Studien eher überwiegen, zeigt sich bei Nimodipin bereits jetzt, daß bei definierten Krankheitsbildern (Alzheimer) wohl kaum positive Befunde zu erwarten sind. Allerdings könnten Langzeitstudien diese derzeitige Wertung noch widerlegen. In der verwendeten Dosis scheint Nimodipin nebenwirkungsarm. Es wurde über Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Erregung und Appetitlosigkeit berichtet. Der Blutdruck wird meist nicht wesentlich gesenkt.
Zusammenfassend können wir feststellen: Die vorliegenden Daten machen es eher unwahrscheinlich, daß Nimotop einen signifikanten Fortschritt als Geriatrikum darstellt. Langzeitstudien könnten dieses derzeitige Urteil bestätigen, aber auch noch widerlegen.

Literatur:
(1) FASEB Lournal 3, 1799, 1989
(2) Lancet 336, 1205, 1990
(3) New Engl. J. Med. 324, 1225, 1991
(4) TIPS 11, 309, 1990,
(5) Progr. Neurol. Psychoph. & Biol. Psych. 14, 525, 1990
(6) Zeitschr. f. Gerontonpsychologie und -psychiatrie 1, 35, 1989
(7) Fishhof et al., in Diagnosis and Treatment of Senile dementia, Springer-Verlag (1990)
(8) Int. J. Geriatric Psych. 3, 99, 1985
(9) Biol. Psych 27, 1133, 1990

 

Geriatric Pharmaton

Laut Reklame steckt in diesem Präparat "sehr viel mehr als Sie vermuten". Tatsächlich bestätigt die Zusammensetzung eher Befürchtungen. Das Medikament enthält Dimethylaminoethanol (Deanol), Ginseng Komplex, Lecithin und eine ganze Menge von Spurenelementen und Vitaminen. Diese letzteren sind nur bei Mangel indiziert und haben keine Wirkung bei geriatrischen Problemen. Sollte ein solcher Mangel aufgrund einseitiger Ernährung vorliegen, ist vor allem diese zu korrigieren oder notfalls einmal ein Vitaminpräparat zu geben. Für Deanol (eine Vorstufe von Cholin), Cholin, Lecithin und Ginseng liegen laut einschlägigen Sammelwerken keine kontrollierten Studien vor, die eine positive geriatrische Wirkung verläßlich belegen (Goodman & Gilman, 8. Ed.; Füllgraff & Palm, 7 Aufl.; Martindale, 29. Ed.).

 

Schlußbemerkung zu Geriatrika

Wir haben in der Pharmainfo V,4,1990 in der Einleitung zu diesem Thema bereits auf die Schwierigkeiten der Bewertung und Verwendung von Geriatrika und Nootropika hingewiesen. Bei allen anderen Gebieten, die wir bis jetzt besprochen haben, also Hochdrucktherapie, Antiepileptika, Analgetika, Antirheumatika, lokale Steroide, Antibiotika, Lipidsenker und Diabetestherapie, konnten wir über zahlreiche wirksame und therapeutisch zweckmäßige Pharmaka berichten. Bei den Geriatrikastehen wir vor der schwierigen Situation, daß für kein Mittel eine überzeugende und reproduzierende Wirkung, insbesondere auch nicht bei der heute immer mehr in den Vordergrund tretenden Alzheimer Erkrankung, belegt ist. Diese Situation ist weder für den behandelnden Arzt/Ärztin noch für die Patien(inn)en befriedigend. Was ist zu tun? Aus unserer damaligen Einleitung sei wiederholt: Angesichts des einzelnen Patienten, angesichts seiner und den Nöten seiner Angehörigen und vor allem angesichts der Tatsache, daß ein therapeutischer Nihilismus nicht geeignet ist, den Patienten zu motivieren, auf dem Niveau der verbliebenen Fähigkeiten das Optimum anzustreben, ist eine ärztliche Entscheidung darüber, ob man Medikamente mit fraglicher Wirkung - wenn kein Risiko vorhanden ist - verschreiben soll, sicher nicht immer leicht und kann nur vom behandelnden Arzt entschieden werden. Diese Mittel sollten aber nicht als Ersatz und Alibi dafür dienen, andere Maßnahmen der psychologischen und sozialen Betreuung zu unterlassen. Von den nun besprochenen Substanzen sind am besten Dihydroergotoxin (Aramexe, Dorehydrin, Erogmed, Eutergin, Hydergin, Diertina, Nehydrin) und Piracetam (Nootropil) untersucht und von den Nebenwirkungen her vertretbar. Für Nimodipin (Nimotop) können weitere Untersuchungen möglicherweise noch ein positiveres Urteil bringen. Wie besprochen, ist für alle diese Substanzen nicht belegt, daß sie im Durchschnitt einer Gruppe, also in einer Doppelblindstudie verläßlich besser als Plazebo sind. Schwer auszuschließen ist allerdings, daß für einzelne Patienten dies der Fall ist. Wenn also ärtztlicherseits die Gabe eines Geriatrikums wichtig erscheint, kann mit diesen Substanzen ein Versuch gemacht werden. Ist im Verlauf von zwei bis drei Monaten der Patient/Patientin subjektiv und von der Beurteilung des Arztes her besser, dann ist diese Therapie, auch wenn sie nur ein Plazebo darstellen sollte, vertretbar. Wenn dem nicht so ist sollte sie abgesetzt werden, da auch die Frage der Kosten zu berücksichtigen ist.
Sollte für eine dieser Substanzen, oder, was eher zu erwarten ist, für eine neue Substanz, eine verläßliche geriatische Wirkung beweisbar werden, dann ist die Therapie daraufhin umzustellen. Noch einmal sei an den Satz von A. Wetterstein erinnert: "Die pharmakologische Maßnahme, die am häufigsten Besserung bei scheinbar senilen Demenzen bringt, ist das Absetzen von Medikamenten, insbesondere von Sedativa, die über längere Zeit verordnet worden sind."

 

P.b.b. Erscheinungsort Verlagspostamt 1010 Wien

Mittwoch, 27. November 1996

Pharmainformation

Kontakt:

em.Univ.Prof.Dr.
Hans Winkler 

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