Inhalt
- Antibiotikatherapie in der Praxis bei Harnwegsinfektion
- Geriatrica und Nootropica
- Piracetam (Nootropil)
- Verbessern Vitamine die Schulleistung bei Kindern?
Editorial
In Fortsetzung einer früheren Analyse (Antibiotika in der Praxis bei Pneumonien: Pharmainfo III/2/1988) bringen wir dieses Mal die Anwendung der Antibiotika bei Harnwegsinfekten. Im weiteren beginnen wir eine Serie über das problematische, aber auch wichtige Gebiet der Geriatrica bzw. auch Nootropica.
Antibiotika in der Praxis bei Harnwegserkrankungen
P. König, Innere Medizin
Die Behandlung von Harnwegsinfekten (HWI) erfolgt in den meisten Fällen auf ambulanter Basis. HWI werden durch eine breite Palette unterschiedlicher Bakterienarten verursacht. Nach den bisherigen Erkenntnissen ist diese Tatsache darauf zurückzuführen, daß das Keimreservoir für Harnwegsinfektionen fast immer im Patienten selbst zu finden ist. In den allermeisten Fällen ist die Darmflora und von ihr ausgehend die Keimbesiedelung des periurethralen Bereiches und der Urethra selbst Ausgangspunkt für das Aufsteigen der Infektionen. Üblicherweise ist der Harntrakt steril, abgesehen vom distalen Ende der Urethra, die mit verschiedensten grampositiven und gramnegativen Keimen besiedelt ist. Die Anwesenheit von Bakterien im Harntrakt muß nicht immer zu einer klinisch manifesten Infektion führen. Die Entstehung einer Infektion hängt von folgenden Faktoren ab:
- von der Anzahl der Organismen: Keimzahlen unter 103/ml Urin haben keinen pathologischen Wert, Keimzahlen zwischen 103 und 105 gelten als kontrollbedürftig, Keimzahlen über 105/ml Urin gelten als manifester Harnwegsinfekt.
- von der Virulenz der Bakterien: Praktisch alle Bakterien sind in der Lage, einen HWI zu verursachen, doch nur spezielle Spezies wie E. coli, Enterokokken, Staphylokokkus aureus, Pseudomonas und Proteus sowie einzelne Pilze sind in der Lage, eine Pyelonephritis zu verursachen (1). Die Infektentstehung hängt von der Adhärenzfähigkeit der Keime ab (2).
- vom Abwehrsystem des Wirtsorganismus:
a) Die restharnfreie Blasenentleerung verhindert die Keimvermehrung im Restharn und damit das Aufsteigen einer Infektion, daher sind Patienten mit obstruktiven Erkrankungen des unteren Harntraktes (Prostatahypertrophie, Ureterocele, Ureterknick, Konkremente und gynäkologische Tumoren) oder angeborenen Fehlbildungen (Hydronephrose, Megaureter oder Harnröhrenklappen) oder Blasenentleerungsstörungen besonders gefährdet.
b) Eine besondere Stellung nimmt der vesicoureterale Reflux ein. Dabei ist immer zu bedenken, daß der Reflux Folge oder Ursache der Infektion sein kann (die Endotoxinfreisetzung gramnegativer Bakterien hemmt die Peristaltik der Ureteren). Persistiert ein vesicoureteraler Reflux 1. Grades, der während einer bestehenden Infektion erstmals festgestellt wurde, nach Abheilen des Infektes, so ist dringend eine urologische Abklärung indiziert.
c) Flush-Effekt: Durch große Flüssigkeitsaufnahme und häufiges Harnlassen wird die immunologische Abwehr durch den physikalischen Spüleffekt unterstützt.
Klinische Manifestationen (3,4):
Asymptomatische Bakteriurie:
Diese Diagnose wird gestellt, wenn zwei hintereinander gewonnene Mittelstrahlharne mehr als 100.000 Keime/ml Urin desselben Erregers aufweisen oder eine Harnprobe mit einem 1x-Katheter gewonnen, ebenfalls eine Keimzahl von mehr als 100.000/ml enthält. Am häufigsten wird sie gefunden bei Patienten mit urologischen Abnormalitäten, bei Schwangeren und in ca. 5% bei Schulmädchen.
Asymptomatische Bakteriurie muß behandelt werden bei Kindern, schwangeren Frauen, alten Patienten und Dauerkatheterpatienten. Bei Erwachsenen (inkl. nicht schwangeren Frauen) scheint eine Therapie keinen Vorteil zu bewirken, da bei den meisten dieser Patienten der Infekt spontan ausheilt. Ein therapeutisches Vorgehen ist bei diesem Patientengut nur dann notwendig, wenn im Bereich des Harntraktes eine Obstruktion vorliegt (5). Schwangere Frauen sollten bei der ersten Schwangerschaftsuntersuchung und spätestens in der 28. Woche einem Screening unterzogen werden. Bei ihnen besteht das Risiko einer Pyelonephritis, die zu Tot- oder Frühgeburt führen kann (6), daher ist bei ihnen eine antibiotische Therapie zwingend.
Oberer vs. unterer HWI:
Anhand der klinischen Symptomatik ist es in den wenigsten Fällen möglich, zwischen einem oberen und unteren Harnwegsinfekt zu unterscheiden. Pollakisurie, Dysurie und suprapubischer Schmerz sind für keinen der beiden spezifisch. Der obere Harnwegsinfekt (akute oder chronische Pyelonephritis) beinhaltet die entzündliche Reaktion des Nierenparenchyms. Hohes Fieber, Schüttelfrost, Rückenschmerzen zusätzlich mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Obstipation sprechen für eine akute Pyelonephritis. Die Harnanalyse zeigt üblicherweise signifikante Pyurie und Bakteriurie, diese Laborkriterien müssen jedoch nicht erfüllt sein. Obstruktion oder/und chronische, unbehandelte Bakteriurie können die Vorläufer einer chronischen Pyelonephritis sein.
Therapie
1. Untere Harnwegsinfektionen:
Akute unkomplizierte Harnwegsinfekte:
Klinisch kann zwischen einer Cystitis und einem akuten Urethralsyndrom nicht unterschieden werden. Die häufigsten pathogenen Keime bei sogenannten unkomplizierten Harnwegsinfekten sind E. coli, Klebsiellen, Proteusspezies und Enterobakter, weniger häufig treten auf Infektionen durch Pseudomonas, Staphylokokkus aureus, Coagulase negative Staphylokokken (ca. 10-15% der Harnwegsinfekte bei sexuell aktiven Frauen) und Enterokokken (1). Selten kommt es vor allem nach instrumentellen Eingriffen oder nach Dauerkatheter zu Infektionen durch Serratia, Candida und Chlamydien.
Antibiotica-Therapie: Mittel der 1. Wahl sind die Kombinationspräparate Trimethroprim und Sulfamethoxazol (Cotrimoxazol: Cotribene, Eusaprim, Sigaprim, Trimetho Compositum) und die Analog-Präparate (Lidaprim, Triglobe), die auf Grund ihres Keimspektrums die wichtigsten Erreger bei den Harnwegsinfektionen erfassen. Sie können nicht nur bei der akuten, sondern auch bei der chronischen und rekurrierenden Harnwegsinfektion eingesetzt werden. Ein Vorteil anderen Substanzen gegenüber liegt in der erhöhten Gewebskonzentration in der Prostata.
Als Alternative sind Ampicillin (Binotal, Standacillin) und Amoxicillin (Amoxilan, Clamoxyl, Gonoform, Ospamox, Supramox) zweckmäßig, wobei letzteres eine geringere Rate an Durchfällen und Hautausschlägen auslöst. Bei Penicillinallergie kann auch, wenn keine Kreuzallergie vorliegt, ein orales Cefalosporin wie Cefalexin (Cepexin, Keflex, Ospexin, Sanaxin) oder Cefradin (Sefril) eingesetzt werden. Bisher wurde 1 bis 3 Wochen behandelt; in letzter Zeit hat sich gezeigt, daß auch eine einmalige Einnahme von Cotrimoxazol bzw. Amoxycillin gleich gute Ergebnisse ergibt. Vorteil der Einmal-Therapie sind gute Compliance, weniger Nebenwirkungen und Kosten und eine geringere Beeinflussung der gastrointestinalen und perinealen Keimflora. Unabhängig von der Therapiedauer muß anschließend der Harnstatus kontrolliert werden.
Chinolon-Antibiotika (7): Diese Antibiotika hemmen die bakterielle DNS-Gyrase, die für das bakterielle Wachstum essentiell ist. Ältere Chinolon-Derivate (Nalidixinsäure: Negram, Chinoxacin: Cinobac; Pipemidsäure: Deblaston) sind verglichen mit den neueren Präparaten schwach wirksam und zeigen keine Gewebspenetration, weiters kommt es rasch und häufig zur Resistenz-Entwicklung. Die neue Generation der Chinolone, das Norfloxacin (Zoroxin), Enocaxin (Gyramid), Ciprofloxacin (Ciproxin) und Ofloxacin (Tarivid) haben eine gute orale Wirksamkeit, dringen gut in das Gewebe ein und haben eine besonders bei gramnegativen Keimen hohe antibakterielle Aktivität. Sie haben aber auch zahlreiche Nebenwirkungen so sind u.a. insbesondere für das ZNS (siehe Pharmainfo III,2,1988) Tremor, epileptischer Gelegenheitsanfall, Gangunsicherheit, Halluzinationen, Psychosen und allergische Reaktionen bis Schock beschrieben, die bei bis zu 0.3% schwerer Natur sind (11). Aber auch wegen der Gefahr der Resistenzentwicklung sind diese Präparate nicht zur Erstmedikation bei unkompliziertem HWI geeignet. Leider wird das in der Werbung manchmal nicht ausreichend klargestellt, wenn für die Diagnose akute Zystitis als Therapie ein Chinolonpräparat empfohlen wird. Nur im schwer leserlichen Kleindruck des Werbetextes steht dann richtig: "Nicht bei banalen Infekten anwenden!". Bei Kindern sind sie wegen der Gefahr von Knorpelschäden oder wegen einer intracraniellen Drucksteigerung kontraindiziert (7). Eine spezielle Indikation für Chinolon stellt die akute bakterielle Prostatitis mit zugleich bestehender Sulfonamidallergie dar.
Nitrofurantoin (Furadantin, Urolong, Uro-Tablinen) ist wegen der Auslösung (8) schwerer Nebenwirkungen (Polyneuropathie, fibrosierende Lungenerkrankungen) und wegen seiner DNA-schädigenden und damit möglicherweise teratogenen und carcinogenen Wirkung (9) nur in Sonderfällen (Allergie gegen Antibiotika oder multiple Resistenz) vertretbar.
Mykoplasmen und Chlamydien werden am besten mit Tetracyclinen behandelt, bei Candida hat sich Ketoconazol (Nizoral: cave Leberschäden, siehe Pharmainfo IV/1/1989) bewährt, Trichomonaden sprechen üblicherweise auf eine Einmalgabe Metronidazol (Ariline, Metronidazol, Trichex) gut an. Gonorrhoische Urethritis sollte mit Penicillin G, bei Resistenz mit Cefoxitin (Mofoxitin) oder einem Gyrasehemmer (s.o.) behandelt werden.
2. Obere HWI
Die Therapie der akuten, unkomplizierten Pyelonephritis entspricht den Richtlinien der Behandlung des unteren Harntraktes, abgesehen von der Einmalgabe. Bei jedem Rezidiv ist eine gezielte (nach Keimbefund und Antibiogramm) Therapie indiziert. Auch nach einem längeren beschwerdefreien Intervall (3 Monate) sollten Harnstatus und Entzündungsparameter kontrolliert werden.
Hinter chronischen Pyelonephritiden verbergen sich rezidivierende pyelonephritische Schübe auf dem Boden chronisch obstruktiver Harnwegsinfektionen und sekundär infizierter interstitieller Nephritiden verschiedener Genese wie z.B bei Analgetikaabusus. Aufgrund des langen Überlebens von Bakterien im Nierenmark ist eine Therapie über viele Monate sinnvoll.
Schwangerschaftspyelonephritis: Hierbei kann es sich um eine Erstmanifestation handeln, eine Gravidität kann aber auch einen Schub einer schon länger bestehenden chronischen Pyelonephritis auslösen. Die Therapie entspricht der der üblichen chronischen Pyelonephritis mit einer wesentlichen Einschränkung an einsetzbaren Antibiotika, die sich oral vor allem auch auf Ampicilline und orale Cephalosporine beschränken. Parenteral stehen weiters Cefazolin (Gramaxin), Cefotaxim (Claforan), Piperacillin (Pipril), Azlozillin (Securopen) und Mezlocillin (Baypen) zur Verfügung.
Behandlung der katheterassoziierten Bakteriurie:
Systemische antimikrobielle Therapie kann nicht allgemein empfohlen werden. Selbstverständlich muß bei symptomatischer Bakteriurie (10) behandelt werden. Die asymptomatische Bakteriurie soll nicht behandelt werden, weil sich im Rahmen einer solchen Therapie häufig Resistenzen ausbilden. Nach Entfernung eines Dauerkatheters soll der Harn kultiviert werden und jede persistierende signifikante Bakteriurie ist zu behandeln.
Zusammenfassung
Die suffiziente Behandlung von Harnwegsinfekten setzt eine ausführliche Anamnese, eine gründliche physikalische Untersuchung und Beobachtung des Patienten voraus. Neben den physikalischen Maßnahmen, viel Flüssigkeit und Wärme, spielt die gezielte und konsequente antibiotische Therapie die entscheidende Rolle wobei nach wie vor eine sehr begrenzte Anzahl von Antibiotika und Chemotherapeutika für eine sinnvolle Behandlung ausreichen.
Literatur:
(1) Schier, Gottschalk, Diseases of the kidney, Vol.1, Kap.VI, Little, Brown Verl., 1989
(2) Lancet, 2:427, 1967
(3) Hosp.Pract. 15(1): 49, 1980
(49 Am. J. Med.71: 849, 1981
(5) J. Infect. Dis. 120: 17, 1969
(6) Kaye, Principle and Practice of inf.Dis., 2nd Ed., Wiley Verl., 1985
(7) Stille, Simon, Antibiotika Therapie, Schattauer Verlag, 1989
(8) DMW 108, 1330, 1983
(9) Proc. Natl. Acad. Sci. 73, 3386, 1976
(10) Antimicrob. Agents Chemother. 12: 625, 1987
(11) Schw. med. Wschr.118, 1823, 1988
Geriatrica und Nootropica
Unter diesem Titel soll für die Leser der Pharmainformation der Versuch gestartet werden, ein außerordentlich komplexes Gebiet so aufzubereiten, daß rationale Richtlinien erkennbar werden. Geriatrica sollen Symptome des Altwerdens (insbesondere solche zentralnervösen Ursprungs) reduzieren oder verhindern. Nootropica sind in der wörtlichen Übersetzung "geiststärkende" Mittel. Diese verführerische Umschreibung führt mitten in die Problematik der behandelten Substanzklasse. Wer hätte nicht das mehr oder weniger dringende Verlangen seinen Geist zu stärken? Bei wie vielen Patienten mit diffusen oder lokalen corticalen Leistungsstörungen bestünde dafür nicht eine ärztliche Indikation? Der Markt für entsprechende Arzneimittel ist sicher gegeben.Dies drückt sich auch in entsprechenden Verkaufsziffern aus. Ein Extrakt der Gingkopflanze (Tebonin) - obwohl nicht als Nootropicum sondern als durchblutungsförderndes Mittel deklariert - fungiert z.B. in Deutschland als umsatzstärkstes Produkt der Pharmabranche (Bewertung in nächster Info). Dem großen Markt steht die schwierige Objektivierung der Wirkungen gegenüber, insbesondere in klinischen Erprobungen.Einerseits ist "Geist" ein weites Feld, andererseits lassen sich die zu vergleichenden Patientengruppen schwer homogenisieren. Signifikante Veränderungen in den Ergebnissen psychometrischer Teste oder Frequenzanalysen von kurzen EEG-Aufzeichungen stehen in einem kaum zu interpretierbaren Verhältnis zu Leistungsverbesserungen,die eine Anhebung der Lebensqualität des Patienten bedeuten. Außerdem haben die verwendeten Methoden selbst einen nicht unbeträchtlichen Interpretationsspielraum. So nimmt es nicht Wunder,daß die klinischen Erprobungen meist nicht zu einheitlichen Urteilen führen.
Das Konzept der Nootropica (2) beinhaltet: 1) Verbesserung des Gedächtnisses und der Lernfähigkeit bei gleichzeitig erhöhter Resistenz gegen amnesierende Faktoren. 2) Verbesserter Transfer zwischen beiden Hirnhälften. 3) Schutz des Gehirns gegen hypoxische und toxische Einflüsse. 4) Verbesserung der corticalen Kontrolle über subcorticale Mechanismen. 5) Fehlen der üblichen psychotropen Effekte wie Sedierung, Stimulation etc. Es bleibt abzuwarten, welche der zu besprechenden Substanzen diesem anspruchsvollen Konzept gerecht werden.
Bei der Anwendung derartiger Mittel stellen sich zwei Fragen, die die Pharmainformation beantworten sollte:
1) Bei welchen Pharmaka finden sich Hinweise für eine tatsächliche Wirkung?
2) Unnütze Medikamente mit möglichen Nebenwirkungen sind keine Placebos (1).
Wenn Medikamente als Placebos gegeben werden, sollten sie zumindest keine Nebenwirkungen haben. Angesichts des einzelnen Patienten, angesichts seiner und den Nöten seiner Angehörigen und vor allem angesichts der Tatsache, daß ein therapeutischer Nihilismus nicht geeignet ist, den Patienten zu motivieren auf dem Niveau der verbliebenen Fähigkeiten das Optimum anzustreben, ist eine ärztliche Entscheidung darüber, ob man Medikamente mit fraglicher Wirkung, wenn kein Risiko (!) vorhanden ist, verschreiben soll, sicher nicht immer leicht und kann nur vom behandelnden Arzt entschieden werden. Diese Mittel sollten aber nie als Ersatz und Alibi dafür dienen, andere Maßnahmen der psychologischen und sozialen Betreuung zu unterlassen. Es ist in den zahlreichen Studien mit Placebos immer wieder beeindruckend, wie sich die psychologischen Parameter der Patienten unter Placebo offensichtlich nur dadurch bessern, daß sie an einer Studie teilnehmen und dadurch vermehrt betreut werden. Ein Satz des Schweizer Psychiaters A. Wetterstein (2a) sollte auch zu denken geben: "Die pharmakologische Maßnahme, die am häufigsten Besserung bei scheinbar senilen Demenzen bringt, ist das Absetzen von Medikamenten, insbesondere Sedativa, die über längere Zeit verordnet worden sind".
Wir werden in der Folge einzelne Medikamente behandeln. Die Reihung beinhaltet keinerlei Wertung. Auch Substanzen, die in der sogenannten klinischen Routine als Mittel gegen cerebrovaskuläre Insuffizienz, bei cerbraler Hypoxie etc. gegeben werden, sollen hier evaluiert werden, auch wenn sie nicht dem Konzept der Nootropica und Geriatrica entsprechen.
Piracetam (Nootropil)
Diese Substanz ist chemisch (2-oxo-pyrrolidin-1-acetamid) mit GABA verwandt, die zu den cerebral aktiven Neurotransmittern gehört. Piracetam selbst scheint aber nicht als Neurotransmitter zu fungieren.
Im molekular-zellulären Bereich zeigt diese Substanz vielfältige Effekte, die aber keinen Rückschluß auf irgendeinen gezielten Angriffspunkt erlauben. So soll Piracetam die lysosomalen Enzyme im Gehirn senken, in der Leber erhöhen oder senken (3), es soll zu verstärktem Einbau von 32P in Phospholipiden (4) und zur Aktivierung von Phospholipase A2 (4a) führen, die Synthese von Cytochrome b5 steigern (5) und den Glucosestoffwechsel stimulieren (6). Auch für die Transmittersynthese sind die Resultate ähnlich uneinheitlich. So soll der Dopamin-Umsatz durch Rezeptorblockade (neurolepticaähnlich mit Prolactinanstieg) gesteigert werden (7), während eine neuere Studie Wirkungen auf Rezeptoren zahlreicher Transmitter findet. In dieser Studie wird wieder eine relativ spezifische Wirkung auf den L-Glutaminsäure-Rezeptor postuliert (8). Offensichtlich kann und hat niemand aus diesen Daten ein zelluläres Wirkkonzept für nootrope Wirkungsmechanismen ableiten können.
Im Tierversuch wurde von einer Anreicherung von Piracetam im Hirngewebe von Affen (9) berichtet. Die Überlebenszeit von Tieren bei Hypoxie wird durch Piracetam verlängert (10, siehe auch 11), wobei diese antihypoxischen Effekte aber nicht über eine Zunahme des ATP-Spiegels gehen sollen (12). Für die nootrope Wirkung am interessantesten sind Befunde, die eine Steigerung von Lerneffekten von Ratten im Labyrinthtest fanden bzw. bei alten Ratten und Affen über Verbesserung der Lernleistung berichteten (siehe 11). Aber auch negative Befunde für die Lernleistung normaler Ratten wurden berichtet (11a).
Entscheidend sind allerdings Befunde am Menschen. Interessant ist eine Studie mit dem PET-System über den Gehirnglucose-Stoffwechsel unter Piracetam (leider nur vorläufige Ergebnisse in 13 veröffentlicht). Bei fünf Patienten kam es nach einer i.v. Dosis von 12 g Piracetam zu einer Steigerung des Metabolismus in geschädigten aber nicht in gesunden Hirnregionen. Quantitative EEG-Untersuchungen dokumentierten Frequenzverschiebungen in Richtung erhöhter Vigilanz (14).
Klinische Erprobungen des Piracetams wurden an sehr unterschiedlichen Patientengruppen durchgeführt. In älteren Studien wurde der Einfluß auf vasculär bedingte Psychosyndrome (15), Zustände nach Schädelhirntraumata (16,17), auf Demenzen vom Alzheimer-Typ in Kombination mit cholinergen Substanzen (18) und auf chronisch Alkoholkranke (19) getestet. In einer Übersicht über 13 Studien kam McDonald (1982; 20) zum Schluß, daß die Wirkung von Piracetam nicht als gesichert angesehen werden kann. In einer anderen Übersicht (1983; 21) wurde festgestellt, daß aufgrund der vorliegenden Studien für Piracetam keine therapeutische Indikation angegeben werden kann. Für die letzten Jahre liegen offensichtlich keine Studien vor (auch nicht in den von der Firma dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Unterlagen), die diese Bewertung ändern würden. Drei kontrollierte Studien seien diskutiert. In der einen wurde der Einfluß von zwei Dosen von Piracetam auf verzögerte Reflexe und Reaktionszeit nach Hypoxie bei normalen Probanden untersucht. Die höhere Dosis (2400 mg) zeigte eine geringe Wirkung auf diese Parameter, die nur um 30% niedrigere Dosis (1600 mg) war aber von Placebo nicht mehr unterschieden (22). In einer anderen Studie (22a) an psychiatrischen Patienten (über 12 Wochen) waren nur in wenigen Untersuchungsgruppen bei psychomotorischen Tests positive Effekte zu sehen, diese waren aber eher bei 2.4 g als bei 4.8 g zu beobachten, was deutlich für eine Zufallsbeobachtung spricht. Bei der höheren Dosis wurde über Schlaflosigkeit und Schwindel berichtet. Dieses Dosisproblem wird noch deutlicher bei einer Studie (23) aus der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie. In dieser Doppelblindstudie wurde der Effekt von Piracetam auf das organische Psychosyndrom chronisch Alkoholkranker (n = 60) untersucht. Extrem hohe Dosen (6 g bzw 24 g/Tag für 42 Tage) wurden verwendet, während in früheren Studien meist 2 - 4 g getestet wurden. Bei drei psychometrischen Tests (d-2-Test, Pauli-Test und Critical-Flicker-Fusion: als Tests für Aufmerksamkeit und Konzentration) ergaben sich sowohl in der Placebogruppe als auch der Piracetamgruppe Verbesserungen, es konnte aber für Piracetam kein Vorteil gefunden werden. Beim Syndromkurztest (für Aufmerksamkeit, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis) war die Ausgangslage ungleich, ein Wert bei der hohen Piracetamdosis war gegenüber der Ausgangslage verbessert, das Endresultat der 3 Gruppen war aber nicht unterschiedlich. Positiv ist zu vermerken, daß auch für diese hohen Dosen offensichtlich keine Nebenwirkungen zu berichten waren. Sonst belegt diese Studie aber an einem sehr homogenen Krankengut, daß sogar extrem hohe Dosen von Piracetam über 40 Tage nicht die zu erwartenden deutlich nootropen Effekte zeigen. Zweifel an früheren Studien, die mit viel niederen Dosen arbeiteten (siehe oben), werden dadurch bestätigt. Wenn für die orale chronische Therapie Dosen von 2-3 g empfohlen werden, dann zeigt sich die Problematik dieser Substanz in Hinblick auf diese Studie deutlich. Auch eine weitere Doppelblindstudie aus jüngster Zeit (23a) fand keinen Effekt von Piracetam (3g 2 x täglich) auf die Gedächtnisleistung bei verschiedenen Demenzformen.
Neurologisch interessant ist die Wirkung von Piracetam auf die elektrophysiologischen Parameter bestimmter Myoklonusformen (24). Allerdings war in dieser offenen Studie die Wirkung auf cortical gesteuerte Myoklonien beschränkt und nicht in jedem Fall nachweisbar. Immerhin stellt die Substanz bei den therapeutisch so schwierig zu beeinflussenden Myoklonien eine zu überprüfende Hoffnung dar.
Zusammenfassung: Aufgrund der experimentellen Studien im molekular-zellulären Bereich bleibt es unklar, was der "nootropen" Wirkung von Piracetam zugrunde liegen soll. In Tierversuchen wurden gewisse positive Effekte bei Hypoxie und für Lernverhalten beobachtet. Ein klinischer Nutzen bei Hirnleistungsstörungen ist bis heute nicht ausreichend belegt. Vor allem Studien aus letzter Zeit lieferten negative Resultate. Demgegenüber stehen als Nebenwirkungen insbesondere Schlafstörungen, Ängstlichkeit und Unruhe, solche schwerer oder gefährlicher Art wurden allerdings nicht beobachtet.
Literatur:
(1) Lancet 1986, 853
(2) Giurgea, C.(1976).In:Essmann, W.B.,Valzelli,L. (eds.): Current developments in psychopharmacology, Vol.III.Spectrum New York, pp 223-273
(2a) Pharmakritik 9, 12, 1987
(3) Exp. Geront. 3 (1973) 315
(4) Pharmakopsych. 12 (1979) 251
(4a) Arzneim.-Forsch. 29 (1979) 615
(5) Arzneim.-Forsch. 28 (1978) 1752
(6) Pol. J. Pharmacol. Pharm. 28 (1977) 111
(7) Psychopharmacol. 61 (1979) 235
(8) Arzneim.-Forsch. 35 (1985) 1350
(9) Arzneim.-Forsch. 28 (1978) 29
(10) Meth. Find. Exptl. Clin. Pharmacol. 6 (1984) 367
(11) D. Ärzteblatt 7 (1987) 337
(11a) Psychopharmacology 92 (1987) 58
(12) Biochem. Pharmacol. 25 (1976) 2241
(13) Heiss,W.D. et al. (1983). In: Positron Emission Tomography of the Brain. Springer,Berlin-Heidelberg, pp 162-168
(14) Arzneim.-Forsch./Drug Res. 28 (1978) 1524
(15) Med. Klin.73 (1978) 195
(16) Therapeutique 48 (1972) 143
(17) Med. Klin.69 (1974) 1235
(18) N. Engl. J. Med, 304 (1981) 1490
(19) Münch. Med. Wschr.116(1974) 2127
(20) McDonald, R.J. (1982). In: Wheatley,D.(ed.): Psychopharmacology of Old Age.University Press, Oxford, pp 113-138
(21) Drugs 26 (1983) 44
(22) Arzneim.-Forsch. 38 (1988) 288
(22a) Psychopharmacology 81 (1983) 100
(23) Psychopharmacol. 100 (1990) 361
(23a) Eur. Arch. Psych. Neurol. Sci. 239 (1989) 79
(24) Clin.Neuropharmacol.11 (1988) 529
Verbessern Vitamine die Schulleistung von Kindern?
Es ist kein so seltenes Ereignis, daß Schulleistungen der Kinder nicht den Erwartungen der Eltern und Lehrer entsprechen. Eine Verbesserung dieser Leistungen durch Medikamente, im Sinne eines chemischen Nürnberger Trichters, würde daher einem alten Wunsch der Menschheit entsprechen. Für Vitamine gilt seit langem der Leitsatz, daß zusätzliche Gabe nur bei mangelhafter Zufuhr von außen zweckmäßig ist. Dem hat nun eine Studie an englischen (Wales) Kindern (12-13 Jahre) mit normaler Ernährung offensichtlich widersprochen (1). Dreißig Schulkinder erhielten ein Multivitamin/Spurenelement Präparat, während andere 30 nur ein Placebo erhielten. Nach 8 Monaten war die "verbal intelligence" (eher abhängig von Erziehung und sozialen Gegebenheiten) unverändert, die "non verbal Intelligence" (eher unspezifischer, "biologischer") war in den "Vitamin Kindern" signifikant erhöht. Diese Studie wurde wegen mehrerer technischer Mängel kritisiert (2). Es war daher zweckmäßig, daß sie an schottischen Kindern (11-13 Jahre) fast exakt wiederholt wurde, allerdings wurde nicht nur ein Test (siehe auch 4 für ähnliche, negative Daten) für "non verbal intelligence" verwendet, sondern deren vier (3). Dabei fanden sich zwischen der Vitamingruppe (40 Kinder) und der Placebogruppe keine signifikanten Unterschiede. Der Zusatz von Vitamin/Spurenelementen verbesserte also nicht die Entwicklung der "non verbal"-Intelligenz.
Dieses Beispiel zeigt sehr gut, wie schwierig die Feststellung einer Medikamentwirkung auf die Intelligenz (oder den "Geist" siehe oben für Nootropica) ist. Weiters zeigt sich, daß man vom Vitamin- bzw. Spurenelementen-Zusatz keine Verbesserung der Intelligenz oder der Schulleistung erwarten darf. Der medikamentöse "Nürnberger Trichter" ist offensichtlich noch nicht gefunden. Neben der Leistung des Kindes verbleiben auch weiterhin die Eltern und Lehrer und nicht Medikamente als wichtige Faktoren der Intelligenzentwicklung.
Literatur:
(1) Lancet I, 140, 1988
(2) Lancet I, 407, 1988
(3) Lancet I, 744, 1990
(4) Lancet II, 335, 1988
P.b.b. Erscheinungsort Verlagspostamt 1010 Wien
Freitag, 22. November 1996
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em.Univ.Prof.Dr.
Hans Winkler
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