Inhalt
- Kürzliche Marktrücknahme von Medikamenten - eine kritische Übersicht
- Metamizol - neuerliches Verbot in Schweden
- Zeitpunkt des Therapiebeginnes mit antiviralen Substanzen bei Zoster, Varizellen und Herpes
- Anfrage: Kombinationspräparate
Kürzliche Marktrücknahme von Medikamenten: eine Analyse
In den letzten Jahren wurden viele wichtige neue Medikamente auf den Markt gebracht. Schwere Nebenwirkungen bewirkten aber auch den Rückzug, insbesonders von neuen Medikamenten, aber auch von solchen, die schon lange am Markt sind. Im folgenden wollen wir versuchen, zwei Hauptprobleme von Nebenwirkungen anhand mehrerer Substanzen zu analysieren.
Leberschäden
Schwere Leberschäden, die letztlich zur Lebertransplantation oder zum Tod führen, können vor allem zwei Ursachen haben: eine mehr dosisabhängige, toxische Komponente oder eine mehr allergische, die schon bei kleinen Dosen zu fulminanter Hepatitis führen kann. Da solche Leberschäden relativ typisch für Arzneimittelnebenwirkungen sind, genügen schon wenige schwere Fälle ein Arzneimittel als Verursacher erkennen zu lassen. Dementsprechend können relativ bald Konsequenzen gezogen werden. Wir haben bereits berichtet (Pharmainfo XIV/1/1999), daß diese Nebenwirkung zur Marktsuspendierung des Parkinsonmittels Tolcapon (Tasmar) geführt hat. Wenn das am gleichen Mechanismus (COMT-Hemmung) angreifende Nachfolgepräparat Entacapone (Comtan, Comtess) keine Leberschäden auslöst und gleich gut wirkt, dann wird dies wohl zum endgültigen Verzicht auf Tolcapon führen. Dies ist verständlicherweise frustrierend für die Firma, die das erste Präparat auf den Markt brachte, aber vom Standpunkt der Arzneimittelsicherheit nicht zu umgehen.
Vor kurzem wurde nun das Chinolon-Antibiotikum Trovafloxacin (Trovan, Turvel) ebenfalls wegen Leberschäden vom Markt genommen. Auch hier scheint es so zu sein, daß bei den Chinolonen möglicherweise eine Subgruppe ein weiteres Chinolon wurde wegen Leberschäden bereits früher vom Markt genommen - besonders toxisch auf dieses Organ ist, während die Mehrzahl der Chinolone nur ein geringeres, und daher vertretbares, Risiko zeigt. Der für Trovan propagierte Nutzen (besondere Wirksamkeit bei gewissen Keimen) kann auch von anderen Antibiotika bzw. Antibiotikakombinationen erreicht werden. Auch hier werden Nachfolgepräparate wahrscheinlich diese Vorteile von Trovan hoffentlich ohne Leberrisiko abdecken.
Ein weiteres Präparat das zu Lebertodesfällen führen kann, ist Troglitazon, das in den USA zugelassen wurde (Rezulin), während in Europa wegen dieser Nebenwirkung bereits die Zulassung verweigert wurde. Diese Substanz ist bei Altersdiabetes indiziert und hat einen neuartigen Wirkungsmechanismus, da sie über eine Erhöhung der Insulinempfindlichkeit wirkt. Die Food and Drug Administration (FDA) mußte für dieses Präparat die Indikation mehrfach einschränken. Die FDA hat auch für Tolcapon (Tasmar) und Trovafloxacin (Trovan) versucht, durch Indikationseinschränkung ein vertretbares Risiko/Nutzen-Verhältnis zu erreichen. Da aber in all diesen Fällen Alternativen zur Verfügung stehen, dürfte der "strengere" europäische Weg der Marktrücknahme der bessere sein. Für die Diabetes-Präparate wird sich zeigen, ob die Nachfolgepräparate mit gleichem Wirkungsmechanismus (Pioglitazone und Rosiglitazone) keine Leberbelastung oder andere schwerwiegende Nebenwirkungen aufweisen.
Die Frage, die sich schon bei dieser Nebenwirkung stellt, ist: Hat die vermehrte Verfügbarkeit von wirksamen Medikamenten und damit die erhöhte Belastung von Patienten/innen mit neuen chemischen Wirkstoffen die Folge, daß die Leber verstärkt beansprucht und damit anfälliger auf Schäden wird?
Herztodesfälle
Wir haben bereits ausführlich darüber berichtet (Pharmainfo XIII/4/1998), daß der Calciumkanalblocker Mibefradil (Posicor), der am Herzen zu einer QT-Verlängerung und zu Arrhythmien führen kann, wegen Herztodesfällen vom Markt genommen wurde. Diese Nebenwirkung betraf vor allem vorbelastete Patienten/innen und Fälle, bei denen Arzneimittelinteraktionen auftraten. Ähnliche Wirkungen auf das Herz besitzen aber weitere sowohl ältere als auch neuere Substanzen und es werden nun mehrfach Konsequenzen gezogen. Ähnlich wie oben für die Leber ausgeführt, dürfte vielleicht hier die Tatsache, daß viele Patienten/innen oft gleichzeitig mehrere Medikamente einnehmen, dazu führen, daß Präparate mit geringer therapeutischer Breite im Rahmen von Arzneimittelinteraktionen heute nicht mehr kontrollierbar erscheinen und vom Markt genommen werden müssen.
Auf jeden Fall wurde das Antihistaminikum Terfenadin (Terlane, Triludan), das ebenfalls zu QT-Verlängerung führen kann und mit Herztodesfällen in Verbindung gebracht wurde, in den USA zurückgezogen und ist in Österreich nicht mehr lieferbar. Das gleiche ist nun für das Antihistaminikum Astemizol (Hismanal) geschehen.
Das Neuroleptikum Sertindol (Serdolect) wurde, wie wir berichteten (Pharmainfo XIV/1/1999), in Europa vom Markt genommen. Dieses atypische Neuroleptikum bietet gegenüber anderen Präparaten dieser Gruppe (Clozapin: Leponex; Risperidon: Belivon, Risperdal; Olanzapin: Olansek, Zyprexa) keine entscheidenden Vorteile bei der Wirksamkeit. Die stärkeren Herznebenwirkungen dürften aber gegenüber diesen Präparaten zu einer negativen Risiko/Nutzen Abwägung führen.
Für das Malariamittel Halofantrin (in Österreich nicht registriert) haben wir berichtet (Pharmainfo X/2/1995), daß es ebenfalls zu Herztodesfällen gekommen ist. Daher darf dieses Mittel nicht als Prophylaxe sondern nur zu Therapie von resistenter Malaria verwendet werden, wo aufgrund des wichtigen therapeutischen Nutzens das Risiko noch vertretbar erscheint.
Das gastrointestinal prokinetisch wirkende Cisaprid (Prepulsid) das wir 1991 (Pharmainfo VI/3/1991) positiv besprochen haben ist ebenfalls durch Herznebenwirkungen (QT-Verlängerung, Torsades des pointes, Kammerflimmern) belastet, die in den USA bereits mit 38 Todesfällen in Bezug gebracht wurden (Worst pills best pills news 5,1,1999). In den USA ist die Indikation daher nur mehr auf gastroösophagealen Reflux beschränkt. Um Nebenwirkungen zu vermeiden enthält die Fachinformation in Österreich eine lange Liste von Warnhinweisen: es soll nicht verwendet werden von Patienten/innen mit Störungen des Elektrolythaushaltes (z.B. Hypokaliämie), mit Nierenversagen, mit chronisch-obstruktiven Atemwegs-erkrankungen und mit Erkrankungen, die mit QT-Verlängerung einhergehen. Zu vermeiden ist auch eine Kombination mit zahlreichen Medikamenten, die entweder eine QT-Verlängerung bewirken oder den Abbau von Cisaprid (über CYP 3A4) verringern wie Azol-Antimykotika, Makrolid-Antibiotika, HIV-Proteaseinhibitoren und Nefazodon, aber auch die Kombination mit Grapefruit-Saft ist kontraindiziert.
Die Beachtung dieser langen Liste von Warnhinweisen dürfte schwierig, wenn nicht unrealistisch sein. Bestenfalls kann daher eine Indikation für Cisaprid bei schwerem gastroösophagealem Reflux, wenn andere Methoden wie Diät und nicht medikamentöse Methoden versagen, oder andere Medikamente sich als nicht zweckmäßig erweisen, vertretbar sein. Eine Gabe bei in Österreich auch zugelassenen Indikationen wie dyspeptische Beschwerden oder gar chronische Obstipation dürfte nicht mehr vertretbar sein. Beim Reizkolon (keine zugelassene Indikation) hat es sich gegen Darmschmerzen, Obstipation und Völlegefühl in einer Doppelblindstudie als unwirksam erwiesen (siehe Drugs 56,11,1998).
Schlußfolgerungen
Bei einigen der oben diskutierten Präparate (Tolcapon, Trovafloxacin, Mibefradil, Sertindol) wäre es möglich gewesen, schwere Nebenwirkungen für den/die Patienten/in zu vermeiden, wenn man diese neueingeführten Präparate, da sie keinen entscheidenden Vorteil brachten, zurückhaltend angewandt hätte. Aber auch Präparate, die schon lange am Markt sind, können heute zu unvertretbar hohen Risiken an Nebenwirkungen, insbesondere Herzrhythmusstörungen führen, möglicherweise deshalb weil Arzneimittelwechselwirkungen in der Praxis kaum mehr zu kontrollieren sind. Patienten/innen nehmen sehr oft mehrere Medikamente gleichzeitig ein. Dementsprechend wurden Terfenadin und Astemizol vom Markt genommen. Für Cisaprid, das noch am Markt ist, stellt sich die Frage, ob eine strenge Indikationsstellung ausreichend ist, um unvertretbare Risiken zu vermeiden.
Metamizol - neuerliches Verbot in Schweden
Metamizol ist seit längerer Zeit in vielen Ländern verboten, in Schweden wurde es bereits 1974 von Markt genommen, dann aber 1995 wieder eingeführt. Als wir in der Pharmainfo XI/4/1996 kritisch über Metamizol (Inalgon Neu, Novalgin, in Kombination: Spasmium comp., Buscopan compositum, Spasmo-Inalgon Neu) berichteten, wurde uns von der Firma die Neueinführung in Schweden als deutliches Signal für eine positive Bewertung von Metamizol vorgehalten. Nun hat Schweden Metamizol wieder von Markt nehmen müssen, da 7 Agranulozytosefälle eine Inzidenz der Agranulozytose von 1 auf ca. 2000 ergaben.
Wie wir schon 1996 (Pharmainfo XI/4/1996) berichteten, hat Metamizol mehrere schwere Risiken. Allergische Reaktionen, insbesondere bei i.v.-Injektionen können zu Schockzuständen führen, die in ihrer schwersten Form tödlich ausgehen können (auch in Österreich wurden Todesfälle berichtet) und deren Gesamtfrequenz im Bereich von 1 auf 1000 liegt (siehe Pharmainfo II/2/1987). Für das Agranulozytose-Risiko wurden weit divergierende Zahlen von 1 auf 3000 bis 1 auf eine Million berichtet (siehe Pharmainfo II/2/1987info5-1.html#). Dies dürfte vor allem auch ein Erfassungsproblem sein, weil eine Agranulozytose, die längere Zeit nach der Medikation auftritt, nur schwer mit einem Arzneimittel korrelierbar ist. Auf jeden Fall war in der damals größten Studie (siehe Pharmainfo II/2/1987) in Deutschland ein Viertel (25%) aller registrierten Agranulozytosefälle auf Metamizol zurückzuführen. In Schweden, das ein sehr gutes System zur Nebenwirkungserfassung hat, war die Frequenz nun 1 auf 2000. Vielleicht ist dazu auch eine publizierte persönliche Erfahrung relevant: M. Sporrer: DMW 123,1397,1998: "Wer, wie meine Mitarbeiter und ich, über mehrere Fälle berichten kann, wo die parenterale Gabe zu Granulozytopenie mit nachfolgender Sepsis und in der Regel tödlichem Ausgang geführt hat, vermeidet diese Medikation nicht zuletzt aus forensischen Gründen".
Gibt es nicht auch genügend pharmakologische oder medizinische Gründe? Wie bereits betont (Pharmainfo XI/4/1996) ist Metamizol zur Fiebersenkung durch Paracetamol ersetzbar. Es gibt anscheinend keine Studien, die eine bessere Wirkung von Metamizol belegen. Man darf allerdings nicht vergessen, daß Metamizol, wenn parenteral verabreicht, schneller als das orale Paracetamol wirkt und daher "effektiver" erscheint. Für Tumorschmerzen ist, wenn Paracetamol, Acetylsalizylsäure und nicht steroidale Antiphlogistika nicht ausreichend wirken, international der Übergang auf Stufe II mit Codein üblich. Von anderen Schmerzen verbleibt nur der Kolikschmerz als mögliche Indikation: Wie schon in der Pharmainfo II/4/1996 ausgeführt, stehen hierzu die Opiate, insbesondere das geringer spasmogen wirkende Pethidin (Alodan), gegebenenfalls kombiniert mit Spasmolytika wie Atropin (Atropium sulfuricum, Atropinsulfat, Minims-Atropinsulfat) und Butylscopolamin (Buscopan) oder sublingualem Nitroglyzerin (Nitroglycerin "Lannacher", Nitrolingual) zur Verfügung. Auch Diclofenac i.m. (Deflamat, Diclobene, Diclofenac, Diclomelan, Diclostad, Fenaren, Magluphen, Tratul, Voltaren) hat sich, wie auch eine kürzlich publizierte Studie über Gallengangkoliken wieder zeigt (Gastroenterology 113,225,1997), bewährt. Metamizol ist in Dänemark, Griechenland, Island und England schon länger nicht mehr im Handel (dies gilt auch für außereuropäische Länder wie USA). Schweden, das Metamizol wieder eingeführt hatte, mußte es nun wegen Agranulozytosefällen wieder vom Markt nehmen. Schon aufgrund dieser Tatsache ist es unmöglich zu argumentieren, daß Metamizol einen unverzichtbaren Teil irgendeiner Therapie darstellt. Tatsächlich gibt es auch, wie oben ausgeführt, keine medizinischen Gründe dafür.
Eine weitere Verwendung einer Substanz, die lebensgefährliche Risiken hat, wird nun auch in Ländern, wo sie noch am Markt verblieben ist, immer schwerer zu vertreten sein.
Zeitpunkt des Therapiebeginns mit antiviralen Substanzen bei Zoster, Varizellen und Herpes
V. Mahler und G. Schuler: Dermatologische Universitätsklinik Erlangen, D
Aciclovir (Aciclobene, Aciclovir Generica, Mapox, Nycovir, Supravilab, Supraviran, Xorox, Zovirax) war der erste spezifisch antiviral wirksame Wirkstoff auf dem Markt (1). Daher liegen für diesen Wirkstoff weitreichende Erfahrungen bezüglich Indikationen, Verabreichungsform, Dosierung und Zeitpunkt eines (noch) sinnvollen Therapiebeginns vor. Seit kurzem sind weitere antivirale Substanzen (Valaciclovir: Valaciclovir "Allen", Valtrex; Famciclovir: Famvir) für bestimmte Indikationen zugelassen, die sich in der klinischen (Phase III) Untersuchung als zu Aciclovir zumindest gleichwertig erwiesen haben. Die meisten abgeschlossenen Studien (z.B. bei Valaciclovir und Famciclovir) verglichen die orale Gabe mit oraler Aciclovir-Therapie (2-5). Die Zulassung dieser Substanzen ist daher für Indikationen gegeben, bei denen bisher die Indikation für eine orale Aciclovir-Therapie bestand. Andere Indikationen sind derzeit in klinischer Prüfung, weshalb in den kommenden Jahren mit einer Ausweitung der Indikationen für die neueren Wirkstoffe zu rechnen ist. Wie alle aufgeführten antiviralen Substanzen ist Aciclovir bei HSV-1, HSV-2 (Herpesviren) und VZV (Varizella/Zoster Virus) ausschließlich während der floriden Virusinfektion mit Replikation wirksam, bei latenter Virusinfektion ist Aciclovir wirkungslos (1). Da alle antiviralen Chemotherapeutika nur während der Virusreplikation wirksam sind, muß der Therapiebeginn generell so früh als möglich einsetzen. Sofern (s.u.) nicht anders angegeben unterscheiden sich die unterschiedlichen antiviralen Wirkstoffe nicht bezüglich der Zeitspanne eines sinnvollen Therapiebeginns, beziehungsweise liegen diesbezüglich keine abweichenden Erfahrungswerte vor.
Bei Zoster bei immunkompetenten Patienten ist ein Therapiebeginn bis 72 Stunden nach Auftreten erster Hauterscheinungen prinzipiell (z.B. mit Aciclovir oder Valaciclovir) wirksam/sinnvoll (3,4,6). Eine gewisse zeitliche Einschränkung besteht für Famciclovir (6). Ein sinnvoller Therapiebeginn ist bei diesem Wirkstoff nur bis 48 Stunden nach ersten Hauterscheinungen nachgewiesen. Bei Beteiligung des N. ophthalmicus ist im Hinblick auf ophthalmologische Komplikationen ein Beginn mit systemischer Therapie noch bis 7 Tage nach Beginn der Hauterscheinungen indiziert (7). Bezüglich der neurotropen Beteiligung bei Zoster wurde in mehreren Studien bei adäquater Aciclovirtherapie eine kürzere Dauer der akuten Schmerzen und eine reduzierte Inzidenz und Dauer der post-zosterischer Neuralgie nachgewiesen (6,8). Unabhängig vom Wirkstoff ist bei immunsupprimierten Patienten ein Therapiebeginn auch noch über o.g. Zeitpunkt hinaus sinnvoll, solange frische Hauterscheinungen auftreten (7,9).
Für Varizellen im Erwachsenenalter ist trotz kontroverser Diskussion eine antivirale Therapie gerechtfertigt, da das Risiko für ernstzunehmende, teilweise letale Komplikationen (Pneumonie, Hepatitis, Enzephalitis, Myokarditis und Purpura fulminans) mit zunehmendem Lebensalter ansteigt (10-12): Während die Letalität bei Varizellen im Kindesalter bei 2:100.000 liegt, beträgt sie im Erwachsenenalter 25:100.000 (13).
Obwohl auch bei immunkompetenten Kindern unter Aciclovirtherapie eine Reduktion der Krankheitsdauer und -schwere nachgewiesen werden konnte, ist diese Therapie nicht standardmäßig angezeigt, da die Erkrankung auch ohne Therapie in der Regel mild und selbstlimitierend verläuft (11,14). Eine Ausnahme stellt die Ansteckung unter Geschwistern dar: Da die konsekutiv angesteckten Geschwister in einer Familie aufgrund der verlängerten Expositionszeit in der Regel schwere Verläufe zeigen, besteht eine relative Indikation zur oralen Aciclovirtherapie (11). Prinzipiell sind o.g. antivirale Chemotherapeutika in der Schwangerschaftnicht zugelassen. Bei schweren Verläufen besteht jedoch die Indikation zur intravenösen Aciclovir-Therapie, da von o.g. Chemotherapeutika für diesen Wirkstoff die meisten Erfahrungen in der Schwangerschaft vorliegen und er am wenigsten toxisch erscheint (12,15). Die UK Advisory Group on Chickenpox empfiehlt jenseits der 20. Schwangerschaftswoche aufgrund des erhöhten Risikos für Varicellen-Pneumonie bei Schwangeren auch bei unkomplizierten Fällen eine orale Aciclovirtherapie (12,16). Aciclovir überschreitet die Plazentaschranke und kann in der Amnionflüssigkeit, in fetalem Gewebe und Blut nachgewiesen werden. Aus Beobachtungen bei accidenteller Aciclovir-Therapie bei Schwangeren im ersten Trimenon ist bisher keine Fruchtschädigung bekannt (3,15).Therapiebeginn bei Varizellen muß innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten von Hauterscheinungen erfolgen, bei Immunsupprimierten und bei Komplikationen auch noch später (9,12,16). Im Gegensatz zur Postexpositionsprophylaxe mit Hyperimmunglobulin bei bestimmten Indikationen (16) ist für Aciclovir eine Postexpositionsprophylaxe während der Inkubationszeit allgemein bei immunkompetenten und immunsupprimierten Patienten nicht etabliert. Aciclovir war aber wirksam in der Vermeidung von innerfamiliären Mehrfacherkrankungen an Varizellen, wobei der Therapiebeginn 7-9 Tage post-expositionem war (17).
Ein Therapiebeginn bei Herpes simplex-Erkrankungen ist von den unterschiedlichen Manifestationsformen abhängig. HSV-1 und -2 sprechen auf niedrigere Dosierungen antiviraler Substanzen an als VZV. Bei Immunsupprimierten ist mit schweren, teilweise ulzerierenden Verläufen zu rechnen. Neuere Wirkstoffe wie z.B. Valaciclovir und Famciclovir sind bei immunsupprimierten Patienten noch nicht zugelassen, obwohl einzelne Studien über eine Wirksamkeit insbesondere als Reaktivierungsprophylaxe berichten (18). Obwohl auch bei Herpes simplex-Gingivostomatitis im Kindesalter ein deutlicher Benefit von oralem Einsatz von Aciclovir bezüglich Dauer und Schwere der Symptome zu verzeichnen ist (14), wird bei Immunkompetenten eine systemische antivirale Therapie jedoch vorwiegend bei genitalen Erkrankungen angesetzt. Die Therapie ist bei Herpes simplex genitalis bei Erstmanifestation innerhalb von 72 h und bei rekurrenten Schüben innerhalb von 24 h zu beginnen, bei Immunsupprimierten auch noch später (3). Bei rekurrenten Herpes genitalis-Schüben ist auch die Wirksamkeit einer Prophylaxe mit antiviralen Wirkstoffen (z.B. Aciclovir 2X400mg p.o./d, Valaciclovir 1x500 mg p.o./d, Famciclovir 2X250mg p.o./d) nachgewiesen (2,5,7,17). Eine derartige Suppressionstherapie wird insbesondere mit Aciclovir teilweise jahrelang ohne unerwünschte Nebenwirkungen durchgeführt (19), wobei für die neueren Wirkstoffe noch keine Langzeiterfahrungen vorliegen (2,3). Abschließend sei noch der Sonderfall des peripartalen Herpes simplex genitalis erwähnt. Im Hinblick auf das peripartale Ansteckungsrisikos des Neugeborenen und die hohe Mortalität bei Herpes simplex neonatorum ist bei peripartaler genitaler HSV-Infektion der Mutter unabhängig vom Zeitpunkt des Blasensprungs eine Sectio indiziert. Ist eine vaginale Entbindung unvermeidlich oder liegt der Blasensprung mehr als 4 Stunden vor der Sectio zurück, wird eine intravenöse Aciclovirtherapie bei Mutter und Neugeborenem empfohlen (20). Eine Aciclovirtherapie der Mutter ist präventiv wirksam, sofern sie spätestens 3 Tage vor Entbindung begonnen wird (20-22). Bei fehlender klinischer Manifestation (i.e. aktiven Läsionen eines Herpes simplex) ist eine vaginale Entbindung möglich (22,23).
Neben den genannten zugelassenen antiviralen Wirkstoffen durchlaufen derzeit weitere Virostatika verschiedene Stufen des Zulassungsverfahrens (5,24). Inwieweit bei den neueren Wirkstoffen der Zeitpunkt eines noch sinnvollen Therapiebeginns bei den unterschiedlichen Indikationen von dem des Aciclovir abweicht, bleibt abzuwarten.
Literatur:
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Anfrage: Kombinationspräparate
Dr.med. Dietmar Weixler hat folgende Anfrage an uns gestellt: ..." ich danke Ihnen für den Erhalt der Pharmainformation, die ich seit Jahren mit Interesse zu lesen pflege, deren Inhalt ich als sachlich und der Objektivität verpflichtet einschätze. In der Pharmainformation XIII/4/1998 berichten Sie, daß es seit 1995 eine zentrale europäische Arzneimittelzulassung gibt. Das hat mich wiederum an ein Faktum erinnert, eine Frage, die sich mir wiederkehrend aufdrängt: Warum gibt es in Österreich so viele Spezialitäten, deren gemeinsame Eigenschaft es ist, überflüssig oder nutzlos zu sein? Beispiele: Analgetika-Mischpräparate wie z.B. sogenannte "Grippemittel" und eine Unzahl mehr, die vor allem von Laien in Selbstmedikation eingenommen werden." Wir möchten diese Anfrage mit einer etwas breiteren Diskussion über Kombinationspräparate beantworten.
Wir haben in der Pharmainfo mehrfach (z.B. Pharmainfo X/3/1995) pharmakologisch unzweckmäßige und/oder gefährliche Kombinationspräparate kritisiert. Erfreulicherweise haben die österreichischen Behörden und die betroffenen Firmen viele vom Markt genommen, wobei sich dann bei den meisten Präparaten auch Deutschland angeschlossen hat. So sind keine Kombinationen von Barbituraten mehr registriert. Gleichfalls sind alle Tranquilizerkombinationen mit Schmerzmitteln verschwunden.
Verblieben sind leider noch einige andere Tranquilizerkombinationen: z.B. Betamed, eine Kombination mit einem Betablocker. Bei dem Anwendungsgebiet für dieses Medikament heißt es: "Für Angstsymptome, die gleichermaßen durch psychische Symptome (wie Angst, Spannung, Unruhe) und vegetativ-somatische Beschwerden (wie insbesondere kardiovaskuläre Störungen) gekennzeichnet sind. Bei eindeutigem Überwiegen psychischer Symptome sollten Benzodiazepine allein, bei kardiovaskulären Erkrankungen ohne erkennbare psychische Komponente bzw. bei Überwiegen somatischer Angstsymptome sollten Beta-Adrenolytika allein verwendet werden." Zeigt dieser Text nicht schon das Problematische dieser Kombination? Wäre es nicht zweckmäßiger, dieses Präparat vom Markt zu nehmen und wie so schön in obigem Text vorgeschlagen, entweder die eine oder andere Therapie zu verwenden. Durch diese Kombination ergibt sich das Risiko, daß eine "Dauertherapie" mit einem Tranquilizer durchgeführt wird und es zur Tranquilizerabhängigkeit kommt.
Auch die Kombination von einem Spasmolyticum mit einem Tranquilizer (Spasmo-Praxiten) kann bei längerer Therapie des "Reizmagens, Reizcolons" zu Tranquilizerabhängigkeit führen und ist daher nicht vertretbar.
Auch die starren Kombinationen von Tranquilizern mit Antidepressiva (Harmomed Dragees, Limbitrol, Pantrop), sind nicht zu empfehlen, auch wenn eine kurzzeitige Kombination am Beginn einer antidepressiven Behandlung zweckmäßig sein kann.
Von den von uns kritisierten Theophyllinkombinationen (Pharmainfo IX/1/1994) sind 12 Produkte vom Markt genommen worden. Kürzlich folgte Apoplectal. Neben Myocardon (Theophyllin, Papaverin, Methylatropin und Nitroglycerin) wurde jetzt Myokardon mono (ein Nitrat als Monosubstanz) auf dem Markt plaziert. Es ist zu hoffen, daß damit das obsolete Myocardon einen geordneten Rückzug antreten kann. Das obsolete Instenon (Etophyllin, Hexobendin, Etamivan) ist noch registriert, aber nicht mehr lieferbar. Der Rückzug hat offensichtlich begonnen.
Bei den Schmerzmitteln sind nach wie vor zahlreiche Kombinationspräparate am Markt. Die beste und sicherste Therapie stellen die beiden Monopräparate Acetylsalicylsäure (AceKapton, Algobene, Alka-Selzer, Aspirin, Aspro "Roche", ASS "Genericon") und Paracetamol (ben-u-ron, Mexalen, Momentum, Paracetamol, ParaKapton) dar. Wenn diese nicht ausreichen, kann notfalls Dextropropoxyphen (APA) oder Codein (DoloKapton) zugegeben werden.
Der Zusatz von Coffein zu Schmerzmitteln wird immer wieder als ein Faktor diskutiert, der zum chronischen Mißbrauch von Analgetica-Kombinationen beiträgt. Dieser chronische Gebrauch kann zu einem das ursprüngliche Leiden komplizierenden Analgetika-Kopfschmerz und letztlich zur Analgetika-Nephropathie, mit der die Patienten/innen schlußendlich bei der Dialyse landen, führen. Derartige Mischpräparate (Coffein + Paracetamol plus Acetylsalicylsäure oder einem Phenazon-Derivat) sind: Adolorin, Asticol, Coldadolin, Contralorin, Dolomo, Duan, Eu-med, Gewadal, Influvidon, Irocophan, Melabon, Migradon, NeoKratin, Nervan, Rapidol, Saridon, Sigmalin B6, Thomapyrin, Vivimed.
Nun gibt es ein Thomapyrin Neu ohne Coffein (allerdings nur registriert, aber nicht lieferbar), eine Paracetamol/Acetylsalicylsäurekombination (analoge Präparate: DuoKapton). Wäre es nicht an der Zeit, daß der Coffeinzusatz und damit alle oben angeführten alten ("obsoleten") Kombinationen einen geordneten Rückzug antreten, um bei Patienten/innen nicht unnötig einen Analgetica-Übergebrauch zu induzieren? Sicherlich führt die Reduktion des Analgeticamißbrauchs auch zu einer Umsatzreduktion aber dies kann doch kein Argument sein, wenn es um Arzneimittelsicherheit geht.
Bei den Grippemitteln gibt es nach wie vor unzweckmäßige Kombinationen von Analgetica bzw. Antipyretica, Antihistaminica und blutdrucksteigernde Substanzen (Influbene, Helopyrin, Influvidon, Neo-Citran, Nisicur, Panax, Seltoc, Trimedil, Wick Erkältungssaft). Eine klinisch relevante Wirkung von Antihistaminica bei normalem (nicht allergischem) Schnupfen ist nicht sichergestellt auch wenn, möglicherweise durch die anticholinerge Wirkung, die einzelne Symptome wie z.B. die Menge des nasalen Sekretes durch sedierende Antihistaminika vermindert werden können, dafür aber Müdigkeit in Kauf genommen werden muß (Clin.Inf.Dis., 25,824,1997; 25,1188,1997). Der Zusatz von blutdrucksteigernden Substanzen kann gefährliche Nebenwirkungen haben, z.B. auch die, daß ein Patient, der ins Bett gehört, weiterarbeitet. Die besten "Grippemittel" sind auch hier die Monopräparate. Auch ein Chininzusatz (Iromin Chinin C-Kapseln, Seltoc, Togal) hat keinen gesicherten Vorteil, bedingt aber das Risiko von Allergien und Herzrhythmusstörungen.
Bei einer kürzlichen Diskussion mit Medizinstudenten wurde die Frage gestellt, warum es auf dem österreichischen Markt die offensichtlich nicht zweckmäßige Kombination Ventide (kurzwirksames beta2-Sympathomimetikum Salbutamol plus Cortison-Derivat: Beclomethason) gibt. Eine Antwort war schwierig. Tatsächlich widerspricht diese Kombination allen neueren Empfehlungen der Asthmatherapie der letzten Jahre (Pharmainfo VI/3/1991, IX/4/1994, X/3/1995). Wer mehr als 1 bis 2 Anfälle pro Woche hat, soll inhalativ Cortisonpräparate nehmen und bei Bedarf kurzwirksame beta2-Stimulantien. Daher ist Ventide eine unzweckmäßige Kombination, weil das ß2-Sympatomimetikum dauernd beigefügt ist und nicht nur bei Bedarf zugegeben werden kann. Eine Kombination von Cortisonderivaten mit langwirksamen ß2-Mimetica, wie sie gerade auf den Markt gekommen ist (Fluticason+Salmeterol: Seretide), kann hingegen bei den Patienten, die mit Cortison alleine z.B. in der Nacht nicht auskommen, zweckmäßig sein. Wird auch hier Ventide dann viele Jahre zu spät seinen Rückzug antreten?
Diese Analyse beantwortet letztlich auch die eingangs gestellte Frage, warum es viele Kombinationspräparate auf dem Markt noch gibt. Die Marktrücknahme oder die Zusammensetzungsänderung von Medikamenten, die sich noch relativ gut verkaufen, ist nur schwer durchzusetzen, aber trotz dieser notwendigen kritischen Kommentare verbleibt der positive Eindruck, daß in Österreich bereits eine große Zahl von unzweckmäßigen Kombinationspräparaten vom Markt genommen wurde, bei den Analgetica-Mischpräparaten und Grippemitteln gibt es offensichtlich noch einen Nachholbedarf.
P.b.b. Erscheinungsort Verlagspostamt 1010 Wien
Montag, 11. Oktober 1999
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