Inhalt
Editorial
Die Pharmainformation wurde in die International Society of Drug Bulletins aufgenommen. Damit sind wir als erste österreichische Medikamenteninformation Mitglied einer Gesellschaft, der die Arzneiverordnung in der Praxis (Ärztekammer der BRD), das Arzneitelegramm (BRD), die Pharmakritik (Schweiz), La Revue Prescrire (Frankreich), das Drug and Therapeutic Bulletin (England), weitere europäische Blätter, aber auch der Australian Prescriber (Australien) und The informed Prescriber (Japan) angehören.
In dieser Gesellschaft können nur völlig unabhängige Informationen, die sich kritisch mit den Problemen der Arzneimitteltherapie auseinandersetzen, aufgenommen werden.
Wir freuen uns, daß nun auch eine Tiroler bzw. österreichische Stimme zu den internationalen Bemühungen beiträgt, über Medikamente und eine rationelle Therapie unabhängig und kritisch zu informieren.
Orale Antidiabetika
H. Drexel, J.R. Patsch, Innere Medizin
Diese Substanzen werden neben Diät und Insulin bei Typ II-Diabetes verwendet.
Pathophysiologie des Typ II Diabetes
Typ II-Diabetes Mellitus ist ein heterogenes Krankheitsbild. Es hat sich eine grob-klinische Zweiteilung der Erkrankung in Typ IIa (normgewichtige Patienten) und in den wesentlich häufigeren Typ IIb (übergewichtige Patienten) durchgesetzt.
Drei Organsysteme sind bei Typ II-Diabetes betroffen (1).
a) Die Insulinproduktion des Pankreas ist relativ vermindert. Die Insulinproduktion ist zu gering für den jeweiligen Blutglucosespiegel. Ein Nicht-Diabetiker würde bei gleich hohem Blutglucosespiegel mehr Insulin produzieren als der Typ II-Diabetiker. Absolut gesehen (= ohne Berücksichtigung des Blutglucosespiegels) kann die Plasmainsulinkonzentration des Typ II-Diabetikers erhöht, normal oder erniedrigt sein. Eine weitere Störung der Insulinfreisetzung betrifft den zeitlichen Verlauf. Normalerweise erfolgt die postprandiale Insulinfreisetzung in zwei Phasen, einer Frühphase mit hoher kurzer Gipfelproduktion und einer Spätphase mit flacherem Verlauf. Ein spezifischer Defekt bei Typ II-Diabetes scheint in einem Verlust der Fühphase zu liegen (2).
b) Die zweite pathologische Veränderung betrifft die Leber. Die Leber produziert im Nüchternzustand vermehrt Glucose.
c) In verschiedenen Organen, insbesondere aber in der Muskulatur, besteht eine Insulinresistenz. Diese läßt sich noch unterteilen in eine Resistenz auf der Ebene der Insulinrezeptoren (an der Zelloberfläche gelegen) mit Verminderung der Rezeptorenzahl und in eine Resistenz auf Postrezeptorebene (intrazelluläre Signalübermittlungsstörungen).
Therapieziele
Bei Typ II-Diabetes gelten zwei Therapieziele: 1) die Vermeidung subjektiver Symptome und 2) die Prävention der Gefäßkomplikationen. Der zweite Punkt ist gleichbedeutend mit einer Prophylaxe bzw. Verzögerung von Atherosklerose. Diese tritt beim Typ II-Diabetiker früher und schwerer auf als beim Nicht-Diabetiker und zeigt ein ubiquitäres Muster mit diffusen Veränderungen in vielen Gefäßabschnitten. Es ist auch eindeutig bewiesen, daß bereits eine pathologische Glucosetoleranz einen Risikofaktor für das Entstehen der Atherosklerose darstellt. Die pathologische Glucosetoleranz ist definiert als ein noch nicht diabetischer Zustand mit Blutglucosewerten zwischen 140 und 200 mg/dl zwei Stunden nach Verabreichung von 75 g Glucose per os.
Medikamente
Biguanide
Diese Substanzgruppe ist heute auf ein Pharmakon (Metformin: Glucophage) zusammengeschrumpft, nachdem unter allen anderen Substanzen, z.B. Phenformin, tödliche Laktatacidosen beobachtet worden waren. Der Wirkungsmechanismus der Biguanide besteht in einer Steigerung der anaeroben Glycolyse, wodurch vermehrt Lactat produziert wird. Metformin ist schwächer wirksam und macht daher kaum schwere Laktatacidosen, prinzipiell ist die Substanz aber genau in der gleichen Art und Weise wirksam wie die früher verwendeten, schwer toxischen Verbindungen. Eine Beeinflussung der Insulinfreisetzung im Pankreas kann nicht beobachtet werden. Möglicherweise gibt es eine zweite gastrointestinale Wirkung mit Hemmung der Glucoseresorption. Biguanide haben in der praktischen Therapie des Typ II-Diabetes fast keine Bedeutung.
Sulfonylharnstoffe
Wirkungsmechanismen
Pharmaka mit Sulfonylharnstoffgrundgerüst binden an spezifische Rezeptoren der Zelloberfläche der Betazelle (3). Dieser Rezeptor dürfte über eine Blockade eines ATP-regulierten K+-Kanals zur Depolarisation der Betazelle mit Calciumeinstrom und damit zur Insulinsekretion führen (4). Die Betazelle reagiert dann auch stärker auf Anstiege der Blutglucose. Interessanterweise scheinen Sulfonylharnstoffe die defekte Frühphase der Insulinsekretion (siehe oben) zumindest teilweise wiederherstellen zu können. Auch die Spätphase der Insulinfreisetzung wird verstärkt. Zusammengefaßt besteht die pankreatische Wirkung der Sulfonylharnstoffe also in einer Bindung an die Betazelle, in einem Calciumeinstrom und in einer vermehrten Sekretion von Insulin mit Betonung der Frühphase. Damit sind die Sulfonylharnstoffe potentiell geeignet, den postprandialen Blutglucoseanstieg zu verhindern. Andererseits gelingt es nur mit einer hypokalorischen Diät, den Nüchternglucosespiegel zu verbessern. Es ist damit klar, daß nur eine Kombination von Diät (Beeinflussung der Nüchternblutglucose) mit Sulfonylharnstoffen (Beeinflussung des postprandialen Blutglucosespiegels) sinnvoll ist. Sulfonylharnstofftherapie ohne Diät führt praktisch immer zum Therapieversagen. Eine Gabe von Sulfonylharnstoffen als "bequeme Therapie" im Sinne eines Diätersatzes ist daher nicht zweckmäßig. Eine Reihe weiterer Wirkungen von Sulfonylharnstoffen wird beobachtet. Alle diese können als sekundäre Phänomene der pankreatischen Wirkung interpretiert werden. Es findet sich eine Verringerung der Glucoseproduktion der Leber und eine verbesserte Insulinwirkung in peripheren Geweben.
All diese Wirkungen von Sulfonylharnstoffen werden nur beobachtet, wenn noch genügend körpereigenes Insulin produziert werden kann. Beispielsweise ist bei Typ I-Diabetikern keine Verbesserung der Insulinwirkung oder der hepatischen Glucoseproduktionsrate durch Sulfonylharnstoffe zu beobachten (5); auch Typ II-Patienten mit geringer Insulinreserve zeigen keinen der beiden Effekte (6). Daher ist auch diese vielfach angepriesene extrapankreatische Wirkung eine reine Folge der pankreatischen Wirkung und prinzipiell kein Vorteil gegenüber einer reinen Diättherapie oder einer Insulintherapie.
Typische Veränderungen des Fettstoffwechsels bei Typ II-Diabetes sind eine Erhöhung der Nüchterntriglyceride, eine Erhöhung des Cholesterins und eine deutliche Erniedrigung des HDL-Cholesterins (7). Typ II-Diabetiker, die mit Sulfonylharnstoffen mittelgut oder schlecht eingestellt sind, zeigen keine Besserung des HDL-Cholesterins und nur einen geringen Rückgang der Plasmatriglyceride und des Cholesterins. Lediglich bei sehr gut mit Sulfonylharnstoffen eingestellten Patienten kommt es meist zur Normalisierung vorher gestörter Plasmalipide. Bei gleicher Blutglucoseeinstellung ist unter Insulin ein besserer HDL-Wert als unter Sulfonylharnstoffen zu beobachten (8).
Die Prävention von Gefäßkomplikationen ist daher mit Sulfonylharnstoffpräparaten grundsätzlich schwerer zu erreichen als mit Insulin. In diese Überlegung sollte allerdings auch eingehen, daß in höherem Alter - ähnlich wie bei Lipidsenkern - der mögliche prophylaktische Nutzen der Therapie gegen die individuelle Lebenserwartung abgewogen werden sollte. Obwohl Faustregeln sehr problematisch sind, kann heute gesagt werden, daß eine gute Diabetes-Therapie etwa 7 Jahre benötigt, um Atherosklerose-prophylaktisch wirksam zu werden.
Sulfonylharnstoffpräparate
Diese lassen sich grundsätzlich einteilen in Präparate der ersten Generation und solche der zweiten Generation. Letztere sind lipophiler und binden sich etwa tausendfach stärker an den Betazellenrezeptor. Daher sind die verwendeten Dosen entsprechend geringer. Sulfonylharnstoffpräparate der ersten Generation: hierzu gehören die Substanzen Carbutamid (Invenol, Nadisan) und Tolbutamid (Artosin, Rastinon). Die Pharmaka der zweiten Generation sind Glibenclamid (Euglucon, Semi-Euglucon, Normoglucon, Neogluconin, Gewaglucon, Glibenclamid "Genericon", Dia-Eptal, Glucobene); Gliclazid (Diamicron); Glibornurid (Glutril, Gluborid); Glisoxepid (Pro-Diaban); Glipizid (Glibenese, Minidiab) und Gliquidon (Glurenorm).
Hinsichtlich der Wirkungsdauer lassen sich die Pharmaka der ersten Generation in kurzwirksame (biologische Halbwertszeit von ca. 4 Stunden: Tolbutamid) und in langwirksame (biologische Halbwertszeit um ca. 36 Stunden: Carbutamid) unterteilen. Dieselbe Unterscheidung ist möglich bei Pharmaka der zweiten Generation, wobei Glisoxepid, Glipizid und Gliquidon eine kurze Halbwertszeit um 4 Stunden aufweisen, während Glibenclamid, Glibornurid und Gliclazid Halbwertszeiten über 8 Stunden aufweisen. Grundsätzlich sind kurzwirksame Pharmaka schneller wirksam und aus verschiedenen Gründen (siehe unten) langwirksamen Substanzen vorzuziehen.
Interaktionen
a) Wirkungssteigernde Interaktionen
Die erste solche Interaktion ist natürlich die Kombination von Sulfonylharnstoffpräparaten mit Insulin. Während eine solche Kombinationstherapie früher grundsätzlich abgelehnt wurde, sind in den letzten Jahren einige positive Beurteilungen über diese Kombination erschienen. Inzwischen ist der allgemeine Tenor, daß Sulfonylharnstoffe, wenn sie nicht alleine zur Diabeteseinstellung ausreichen, nicht mit Insulin kombiniert werden sollten, da nicht längerfristig auf Insulin verzichtet werden kann. Dies wird auch dadurch unterstrichen, daß Sulfonylharnstoffe bei Typ I-Diabetikern und Typ II-Diabetikern mit geringer Insulinreserve zur Blutglucosesenkung unwirksam sind.
Weitere wirkungssteigernde Interaktionen entstehen durch die Verdrängung aus der Plasmaeiweißbindung z.B. durch Phenylbutazon (z.B. Butazolidin, Ambene, Tomanol), möglicherweise auch durch andere Pyrazolderivate wie Propyphenazon (in zahlreichen Schmerzmitteln: z.B. Cibalgin, Eu-Med, Gewadal, Grippinon, Optalidon, Tonopan, Vivimed), durch Acetylsalicylsäure (Aspirin u.a.), durch Sulfonamide (Madribon u.a.) und Trimethoprim (Bactrim, Lidaprim, Eusaprim u.a.). Weitere Wechselwirkungen beruhen auf einer Konkurrenz um die abbauenden Leberenzyme (durch Sulfonamide, Antikoagulantien wie Marcoumar, Sintrom und Antiepileptika vom Phenytointyp wie Epanutin, Epilan, Phenhydan) und durch Verminderung der Glukoneogenese in der Leber (Alkohol). Von den zahlreichen beschriebenen, oft nur theoretisch interessanten Wechselwirkungen mit Pharmaka sind diese oben genannten von tatsächlich praktischer Bedeutung, da sie zu lebensgefährlicher Hypoglykämie führen können.
b) Wirkungsschwächende Interaktionen wurden bei Thiaziden und Betablockern beobachtet. Da Patienten mit Typ II-Diabetes häufig eine arterielle Hypertonie aufweisen, steht eine solche Kombination mit Thiaziden oder Betablockern zur Diskussion. Die beiden Substanzgruppen sollten allerdings bei Patienten mit Diabetes Mellitus nicht eingesetzt werden. An ihrer Stelle sollten Calciumantagonisten oder ACE-Hemmer verwendet werden.
Unerwünschte Wirkungen
Die wichtigste unerwünschte Wirkung ist die Hypoglykämie. Hypoglykämien treten insbesondere nach langwirksamen Sulfonylharnstoffen (9) auf. Sie sind zwar seltener, aber potentiell wesentlich gefährlicher als jene bei Insulin. Aufgrund ihres schleichenden Verlaufes und der möglichen neurologischen Lokalhinweise, werden sie auch häufig als cerebrovasculäre Insulte fehlinterpretiert (10). In großen Serien sind 10 bis 17% dieser Sulfonylharnstoff-Hypoglykämien tödlich, etwa 3% der nicht-tödlichen Zwischenfälle gehen mit bleibenden neurologischen Schäden einher. So waren von 60 Hypoglykämiefällen, die durch das langwirksame Glibenclamid ausgelöst wurden, 24 von schwerem Verlauf und 10 Fälle endeten tödlich (9). Da andererseits Pharmaka mit kurzer Wirkungsdauer gleichzeitig den Vorteil des raschen Wirkungseintrittes und des physiologienahen Ersatzes der Insulinfrühphase bieten, sollten sowohl aufgrund des Nebenwirkungspotentials als auch der Wirkkinetik nur kurzwirksame Sulfonylharnstoffe verwendet werden. Weiters wurde gezeigt, daß schwere Hypoglykämien besonders in der Altersgruppe von über 75 Jahren beobachtet werden, insbesondere wenn zusätzlich eine Gastroenteritis oder eine pharmakologische Interaktion (siehe oben) besteht. Daher wird von manchen Experten empfohlen, in dieser Altersgruppe überhaupt keine Sulfonylharnstoffe einzusetzen. Auf alle Fälle sollte grundsätzlich auf Sulfonylharnstoffe mit langer Wirkungsdauer verzichtet werden (11), bei Patienten ab 75 scheinen sie absolut kontraindiziert.
Glucotoxizität
Unter diesem Begriff wird eine sehr interessante Beobachtung zusammengefaßt. Unger und Grundy (12) konnten 1985 zeigen, daß die Hyperglykämie ein sich selbst erhaltender Zustand ist. Hyperglykämie verringert die pankreatische Insulinsekretion und erschwert die Insulinwirkung. Die Hyperglykämie verschlechtert also die beiden charakteristischen Stoffwechselstörungen des Typ II-Diabetes, welche ihrerseits erst die Hyperglykämie entstehen ließen. Es liegt somit ein echter Circulus vitiosus vor. Übrigens hat sich durch diese Beobachtung auch der langjährige Streit erübrigt, ob die primäre Ursache für den Typ II-Diabetes nun die Insulinresistenz oder die verminderte Insulinsekretion ist. Wenn eine der beiden Ursachen zur Hyperglykämie führt, bedingt die Hyperglykämie deren Verschlechterung und gleichzeitig ein Auftreten der anderen Ursache. Nebenbei soll erwähnt werden, daß bei Typ I-Diabetes mit noch geringer körpereigener Restinsulinsekretion letztere durch Hyperglykämie deutlich verschlechtert wird bzw. bei straffer Einstellung wieder verbessert wird.
Diese Überlegungen der Glucotoxizität haben wichtige praktische Implikationen. Wenn es gelingt, durch eine therapeutische Maßnahme den Blutglucosespiegel nahezu zu normalisieren, ist es wesentlich leichter, den Stoffwechsel weiterhin kompensiert zu halten. Ist also oft zur primären Einstellung bei Typ II-Diabetes eine relativ hohe Insulindosis notwendig, so kann in der Folge eine wesentlich geringere Dosis ausreichen, wenn einmal die Glucotoxizität durchbrochen worden ist. Daher können auch Patienten, welche prinzipiell auf Sulfonylharnstoffe nur ungenügend ansprechen, nach einer längeren Insulintherapie scheinbar wieder gut auf Sulfonylharnstoffe ansprechen, wenn der Circulus vitiosus durchbrochen ist. Meistens ist aber dann innerhalb weniger Wochen wieder eine Insulinpflichtigkeit zu beobachten. Daher sollten Patienten, welche nachgewiesenermaßen mit Sulfonylharnstoffen nicht dauerhaft gut einstellbar waren und unter einer Insulintherapie gut eingestellt sind, nicht neuerlich auf Sulfonylharnstoffe eingestellt werden.
Desensibilisierung der Betazellen
Es wurde beobachtet, daß die Wirkung von Sulfonylharnstoffen auf die Betazelle sich reduziert, wenn die Betazelle dauernd einem hohen Sulfonylharnstoffspiegel ausgesetzt ist. Dieser Wirkungsverlust stellt somit einen weiteren Nachteil von langwirksamen Substanzen dar. Weiters hat diese Beobachtung praktische Konsequenzen für das Dosierungsschema, weil es besser erscheint, die gesamte Dosis von Sulfonylharnstoffen am Morgen zu geben oder auf morgens und mittags zu verteilen, als morgens, mittags und abends die Substanzen zuzuführen. Letztere Vorgangsweise würde den Nachteil haben, daß die sulfonylharnstofffreie Zeit in der Nacht entscheidend verkürzt wird.
Therapeutisches Vorgehen und Präparateauswahl
Keine Therapie des Typ II-Diabetes ist erfolgreich, wenn sie nicht eine Diät beinhaltet. Wichtigste Aufgabe der Diät ist es, bei erhöhtem Gewicht zu einem geringeren Übergewicht, natürlich besser noch zu Normgewicht zu führen. Außerdem sollten rasch resorbierbare Kohlenhydrate und gesättigte Fette vermindert werden. Weiterhin sollte die Diät arm an Kochsalz und relativ reich an ungesättigten Fettsäuren sein. Es ist wichtig zu betonen, daß auch eine Gewichtsabnahme von nur ca. 5 kg die Stoffwechsellage deutlich verbessern kann. Bei einem Teil der Patienten (um 25%) wird dadurch bereits sowohl der Nüchternglukosespiegel als auch der postprandiale Glukoseanstieg normalisiert. Sollte durch Diät alleine der Nüchternglucosespiegel in normoglykämienahe Bereiche abfallen (also unter 130 mg%), jedoch postprandial noch ein über 200 mg% erhöhter Blutglucosespiegel beobachtet werden,scheint die Kombination Diät und Sulfonylharnstoff sinnvoll zu sein. In solchen Fällen kann durch Durchbrechen der Glucotoxizität die körpereigene Insulinreserve relativ lange aufrechterhalten werden und auch die Insulinwirkung intakt bleiben. Eine gute postprandiale Einstellung wäre bei Blutglucosewerten unter 180 mg% ca eine Stunde nach der Mahlzeit gegeben.
Sind durch Diät und Sulfonylharnstoffe (bei ca. 30% erfolgreich) entweder der Nüchternblutglucosespiegel oder der postprandiale Blutglucosespiegel nicht in diese erwünschten Bereiche zu senken, sollte eine Kombination von Diät und Insulintherapie (für ca. 50% der Patienten) durchgeführt werden. Durch eine Umstellung von Sulfonylharnstoffen auf Insulin können nämlich erst die anfangs erwähnten therapeutischen Ziele erreicht werden. Erstens wird erst so die Glucoseschwelle der Niere unterschritten und damit die subjektive Symptomatik des Diabetes (durch osmotische Diurese bedingt) durchbrochen. Zweitens ist in allen Untersuchungen und in der klinischen Praxis immer wieder beobachtet worden, daß Patienten, welche diese Blutglucosekriterien nicht erfüllen, weiterhin pathologische Veränderungen im Bereich des Fettstoffwechsels, insbesondere pathologisch niedrige HDL-Cholesterinwerte aufweisen. Als Folge dieser Störung finden sich auch gehäufte atherosklerotische Komplikationen bei ungenügender Einstellung. Eine Kombination von Diät und Insulin ist auch indiziert bei schweren Leber- und Nierenschäden sowie bei operativen Eingriffen, da in all diesen Fällen orale Antidiabetika kontraindiziert sind.
Therapieversager unter Sulfonylharnstoffen können eingeteilt werden in Primärversager, wobei entweder schlechte Diätcompliance oder geringe Insulinreserve die Ursache sind.Sekundärversager treten etwa in 10% pro Jahr auf und sind ebenfalls entweder durch fehlende Diätcompliance oder durch Rückgang der Insulinproduktionsrate bedingt.
Als erste Wahl sollte in der Praxis Tolbutamid (Artosin, Rastinon) je 0,5 - 1 g morgens und mittags gegeben werden. Ist damit die oben geforderte Einstellung nicht erreichbar, sollte ein kurzwirksames Präparat der zweiten Generation verwendet werden, also entweder Glisoxepid (Pro-Diaban) morgens und mittags, oder Glipizid (Glibenese, Minidiab) morgens und mittags, oder Gliquidon (Glurenorm).
Die obigen Therapieempfehlungen stehen in einem gewissen Widerspruch zur gängigen Praxis, wie dies Studien belegen (siehe 10):
1. So soll in der Praxis der Zeitpunkt der Diagnosestellung für einen Typ II-Diabetes oft identisch sein mit dem Beginn der Sulfonylharnstofftherapie. Dies dürfte auch die hohe Verschreibungsquote für dieses Medikament in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich erklären, wo 2,4 bzw. 1,5% der Bevölkerung orale Antidiabetika erhalten (0,8%, bzw. 0,6% Insulin) während die Vergleichszahlen für die USA (1% orale Antidiabetika, 0,8% Insulin), und England (0,9% bzw., 0,6%) sind (10).
Eine Therapie muß aber zuerst durch eine Diät eingeleitet werden, und auch wenn diese nicht ausreicht, sind Sulfonylharnstoffe nur zusammen mit Diät wirksam.
2. Langwirksame Präparate, insbesondere Glibenclamid (Euglucon u.a.) werden in Österreich am häufigsten verschrieben. Aufgrund mehrfacher Überlegungen (siehe oben) sind aber kurz wirksame Präparate vorzuziehen.
Literatur:
(1) Diabetes 27, 111,1 978
(2) Diabetes 21, 224, 1972
(3) FEBS Letters 242, 65, 1988
(4) J. Biol. Chem. 262, 15840, 1987
(5) Diabetes 31, 890, 1982
(6) Eur. J. Clin. Pharmacol. 33, 279, 1987
(7) Diabetologia 20, 118, 1981
(8) Ann. Int. Med. 108, 334, 1988
(9) Drugs 37, 58, 1989
(10) Dtsch. med. Wschr. 112, 1727, 1987
(11) Schweiz. med. Wschr. 116, 145, 1986
(12) Diabetologia 28, 119, 1985
Aus gegebenem Anlaß: Barbiturate als Medikamente
Eine Mutter schrieb aufgrund ihrer Erfahrungen mit Barbituraten (insbesondere Perdormal) einen Brief an die Tiroler Ärztekammer, aus dem einige Zeilen zitiert seien: "... in einem geordneten Staat bleibt mir, als betroffener Mutter einer seit 2 Jahren perdormalabhängigen siebzehnjährigen Jugendlichen nichts anderes übrig, als mich an die gesetzgebenden und verordnenden Organe zu wenden;..... teile ich Ihnen mit, daß in meinem Bekanntenkreis diese Droge einer Schmerzpatientin, von einer Klinik in bedenklicher Menge verordnet wurde, ohne Hinweis auf etwaige Schäden. Ich frage Sie, was geschieht mit diesem Menschen, gewöhnt an von Medizinern verordnete Mittel, wenn Entzugsepilepsie oder Atemstillstand auftritt? Ich ersuche Sie, sollte die Erzeugerfirma nicht freiwillig zu einer Abänderung der Substanzen bereit sein, die Erzeugungsbewilligung zu entziehen. Der Humanmediziner kann auf ein breites Angebot von hoch wirksamen Ersatzmitteln zurückgreifen, die Drogensüchtigen werden auf eine andere Droge umsteigen, hier vielleicht auf eine mit weniger Folgeschäden. Sie helfen nicht nur Drogensüchtigen, das Leben zu verlängern - bis zu einer eventuellen Wiedereingliederung in die Gesellschaft - sondern auch sogenannten ganz normalen Menschen, die von medikamentöser Abhängigkeit nichts wissen können und unter bestimmten Voraussetzungen, per ärztlicher Verschreibung, der Gefahr ausgesetzt sind, ihre psychische und physische Existenz zu ruinieren."
Barbiturat Monopräparate (Agrypnal Tabl., Agrypnaletten, Perdormal) sind heute als Schlafmittel nur mehr in seltensten Fällen, wenn überhaupt zu vertreten, während sie als Antiepileptika (siehe Pharmainfo I/4) weiterhin ihren Platz haben. So schreibt kürzlich das Arzneitelegramm (1989, S.66): "Die Ära der Barbiturat-Schlafmittel ist nach mehr als 80jähriger Anwendung vorüber, auch wenn 1988 immer noch 4,5 Millionen Packungen im Wert von 50 Millionen DM (Apothekerabgabepreis) vertrieben wurden. Geringer Abstand zwischen therapeutischer und toxischer Dosis, Todesfälle nach Überdosen, Unterdrückung des REM-Schlafes, schnelle Toleranzentwicklung, hohe Wahrscheinlichkeit physischer Abhängigkeit, Mißbrauch sowie häufige Arzneimittelinteraktionen stehen auf dem Negativkonto, sodaß die Anwendung von Barbituraten nur noch bei hirnorganischen Krampfleiden und in der Anästhesie gerechtfertigt ist."
Als Schlafmittel sind auf jeden Fall heute Benzodiazepine vorzuziehen, da diese deutlich weniger akut toxisch und auch deutlich weniger suchtgefährdend sind, allerdings (siehe Pharmainfo III/4) keineswegs suchtfrei. Die Barbituratsucht gehört zur Gruppe der Alkohol/Barbituratsucht mit schwerer psychischer und physischer Abhängigkeit und mit pharmakokinetischer Toleranzentwicklung. Barbiturate und Alkohol werden auch oft wechselweise mißbraucht. Das Entzugssyndrom von Barbituraten verläuft unter dem Bild des Delirium tremens, welches die gefährlichste Form eines Entzugs (mit deutlicher Mortalität) darstellt. Der oben zitierte Brief sollte Anlaß sein, die Verschreibung nur, wenn keine andere Therapie möglich ist, weiterzuführen. Eine Einordnung von Barbituraten unter die Suchtgiftrezeptpflicht würde eine zweckmäßige gesetzliche Maßnahme darstellen.
Wir haben in der Pharmainfo III/4 bereits die Tatsache kritisch beleuchtet, daß Barbiturate in Kombination mit vielen anderen Substanzen angeboten werden. Wegen der Suchtgefahr der Barbiturate sind solche Präparate als obsolet zu bezeichnen. Leider ist das angekündigte Verbot von Schmerzmittel/Barbiturat-Kombinationen (Cibalen, Cibalen S, Spasmoplus, Spasmo-Inalgon, Butylonyl, Gerinox, Optalidon, Grippinon, Inalgon Supp. + Tabl.) noch immer nicht durchgeführt worden (in der BRD seit längerem erfolgt). Weitere Barbituratkombinationen, die wir damals besprochen haben sind u.a. Adystonin, Belladanal, Bellonetten, Cillergon, Ergotropal, Hydrovegeton, Neovegeton; Perphyllon, Myocardon, Perspiran, Brondiletten; Isoptin-S-Drg., Pulsnorma, Seda Nitro Mack; Sedocor, Sedalepsin, Codelum.
Kombinationspräparate, die suchtgefährdende Barbiturate enthalten, sind nicht mehr vertretbar. Das Bundesgesundheitsamt der BRD hat kürzlich (BGA-Pressedienst, 40, 1989) z.B. auch alle Kombinationen von Hormonen mit Barbituraten und Tranquilizern verboten, die erfreulicherweise in Österreich nie zur Registrierung gelangten.
Zurückgezogene Präparate: Cronassial
Bei diesem Präparat handelt es sich um ein Gangliosidgemisch aus Rinderhirnextrakten. Es wurde 1985 in der BRD (und dann auch in Österreich) zur unterstützenden Behandlung nach Bandscheibenoperationen, bei Verletzungen des peripheren Nervensystems und bei Neuropathien alkoholischer, diabetischer und urämischer Genese, in Österreich für die Indikation Neuritiden, Neuropathien, zugelassen (1).
Rinderhirnganglioside zeigen einen in-vitro-Effekt auf die Nervenregeneration (siehe 2) und auch in manchen Tiermodellen konnten in-vivo-Effekte gesehen werden. Die Wirksamkeit dieser Ganglioside am Menschen war aber bei der Zulassung nicht ausreichend belegt (3) und heute fehlt noch immer "das Ergebnis multizentrischer Studien" in der BRD oder "der Nachweis, daß exogen zugeführte Ganglioside in die menschliche Nervenmembran eingebaut werden können" (4).
Bereits 1985 hat das Arzneitelegramm geschrieben: "CRONASSIAL ist trotz aller Reinigungsschritte mindestens mit 0,2% Fremdeiweiß bzw. Eiweißbruchstücken verunreinigt. Damit wäre eine immunogene Wirkung des Präparates plausibel. Darüber hinaus findet man bei neurologischen Erkrankungen häufig Serumantikörper gegen Ganglioside. Dies sehen wir als bedenklich an, zumal sich Spätphasen immun-toxischer Reaktionenen in Form von Schädigungen des peripheren Nervensystems (Guillain-Barré-Syndrom) äußern können. Hierin erblicken wir ein besonderes Risiko."
Jetzt kam das Aus für Cronassial.
In Österreich wurde die Zulassung zurückgezogen und in der BRD wurde ein Ruhen der Zulassung beantragt. In Verbindung mit der Therapie mit Cronassial sind nämlich Erkrankungsfälle des Guillain-Barré-Syndroms (Polyradiculoneuritis: immuntoxische Schäden des peripheren Nervensystems) aufgetreten. Wieder einmal zeigt sich, daß Präparate, deren Wirkung nicht zweifelsfrei bewiesen wurde, nicht zugelassen werden sollten, da eine fragliche Wirkung bei möglichen Risiken nicht vertretbar ist. Eine Verschreibung von neu zugelassenen Präparaten sollte immer nur mit Zurückhaltung erfolgen (nur bei offensichtlichem und belegtem Therapiefortschritt), da auch gefährliche Nebenwirkungen oft erst in den ersten fünf Jahren nach Zulassung erkannt werden.
Literatur:
(1) BGA-Pressedienst 41, 1981
(2) Drug Research 38, 1563, 1988
(3) Arzneitelegramm 1986, S.33
(4) Arzneitelegramm 1989, S.70
Acetylsalicylsäure (ASS) nach akutem Herzinfarkt
Die ASS (Acimetten, Aspirin, Aspro, Colfarit) ist auch 90 Jahre nach ihrer Einführung immer wieder für Überraschungen gut. Wir haben bereits die Anwendung in der Reinfarktprophylaxe, bei transienten ischaemischen Attacken (Pharmainfo I/2) und zur Prävention von Primärinfarkten (Pharmainfo III/4) diskutiert. Jetzt zeigte eine neue Studie (ISIS-2; Lancet II, 349, 1988) an 17.178 Herzinfarktpatienten, daß ASS die akute Infarkt-Mortalität deutlich reduzieren kann. Innerhalb von 24 Stunden nach dem Infarkt erhielten die Patienten entweder eine i.v. Infusion von Streptokinase oder 160 mg ASS oral (täglich für einen Monat), beide Behandlungen oder keine. Die vaskuläre Mortalität ohne diese Behandlung betrug 5 Wochen später 12%, nach Streptokinase nur mehr 9,2%, nach ASS nur mehr 9,4%. Für die Kombination war die Mortalität 8,0% versus 13,2% in der Placebogruppe. Auch nicht tödliche Reinfarkte (1.0 versus 2%) und nicht tödliche Schlaganfälle (0,3 versus 0,6%) wurden durch ASS reduziert.
Eine frühzeitige Gabe von ASS (1/4 - 1/2 einer 500 mg Tablette) wird von den Autoren, wenn nicht klare Kontraindikationen vorliegen (z.B. aktive Magenulcera) bei allen frischen Herzinfarktpatienten (zuhause, beim Transport, oder im Krankenhaus) empfohlen. Wenn dies wie in der obigen Studie zu einer ca. 25%igen Reduktion der vaskulären Mortalität nach frischem Herzinfarkt führt, wäre dies ein beeindruckender Erfolg bei dieser so häufig zum Tode führenden Erkrankung.
P.b.b. Erscheinungsort Verlagspostamt 1010 Wien
Donnerstag, 14. November 1996
Pharmainformation
Kontakt:
em.Univ.Prof.Dr.
Hans Winkler
Tel.: +43 (0)512/9003-71200
Fax: +43 (0)512/9003-73200
E-Mail: hans.winkler@i-med.ac.at
Peter-Mayr-Straße 1a
A-6020 Innbruck
Sie finden uns hier.
Kontakt:
em.Univ.Prof.Dr.
Hans Winkler
Tel.: +43 (0)512/9003-71200
Fax: +43 (0)512/9003-73200
E-Mail: hans.winkler@i-med.ac.at
Peter-Mayr-Straße 1a
A-6020 Innbruck
Sie finden uns hier.