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Editorial
Vor kurzem wurde der COX-2 Hemmer Rofecoxib (Vioxx) weltweit vom Markte genommen. Wir haben in der Pharmainfo XVI/4/2001 die COX-2 Hemmer besprochen. Positiv bewertet wurde die Reduktion gastrointestinaler Nebenwirkungen durch diese Medikamente im Vergleich zu den bisherigen NSAID. Kritisch wurde aber auf dieerhöhte Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse, insbesondere in einer Studie mit Rofecoxib, hingewiesen. Basierend darauf wurde festgestellt: "Erklären lässt sich ein kardiovaskuläres Risiko der Coxibe durch Hemmung der COX-2 vermittelten Produktion von Prostacyclin, einem antithrombotischen Prostaglandin. Coxibe sollten bei Patienten/innen mit kardiovaskulärer Erkrankung nicht verwendet werden. Eine klinische Prüfung bezüglich des Endpunktes kardiovaskulärer Ereignisse ist dringend erforderlich". Für Vioxx ist diese Prüfung erfolgt. Das Ergebnis war: Pro ca. 130 Patienten/innen, die ein Jahr mit Vioxx behandelt wurden, trat zusätzlich ein kardiovaskuläres Ereignis (einschließlich Herzinfarkt und Schlaganfall) auf. Wir verzichten auf eine Hochrechnung auf die ca. 2 Millionen Patienten/innen, die Vioxxeingenommen haben.
Für die anderen COX-2 Hemmer (Celecoxib: Celebrex; Valdecoxib: Bextra; Parecoxib: Dynastad; Etoricoxib: Arcoxia) sind nun ebenfalls entsprechende Studien notwendig. Bis diese vorliegen gilt, dass bei Risikopatienten/innen für kardiovaskuläre Erkrankungen auch andere Coxibe derzeit, insbesondere bei Langzeittherapie, schwer zu vertreten sind (siehe auch NEJM 351,1709,2004). Eine zusätzliche Gabe von Acetylsalicylsäure löst dieses Problem nicht, da durch diesen Zusatz die Reduktion gastrointestinaler Nebenwirkungen durch COX-2 Hemmer wieder aufgehoben wird (siehe Pharmainfo XVI/4/2001). Es gibt keine zwingende Indikation für Coxibe, da eine niedere Rate gastrointestinaler Nebenwirkungen auch mit der Kombination bewährter NSAID (auch zusätzlich mit Acetylsalizylsäure) und Protonenpumpenblockern erzielt werden kann.
Wir können nur wieder einmal betonen: Eine auf Sicherheit bedachte Therapie (vor langer Zeit einmal als primum non nocere formuliert) wird neu auf den Markt gekommene Präparate nur bei therapeutischem Fortschritt, bzw. bei strengerer Indikationsstellung verwenden und bei einer Langzeittherapie, wenn noch keine entsprechenden Langzeit-Studien vorliegen, besonders zurückhaltend sein.
Eine in diesem Sinne strenge Indikationsstellung für Vioxx, insbesondere bei Patienten/innen mit kardiovaskulären Problemen, hat sicherlich Schaden verhindert.
Oseltamivir (Tamiflu)
Günther Weiss (Univ. Klinik f. Innere Medizin, Medizinische Universität Innsbruck)
Die Influenza ist nach wie vor eine der häufigsten und mit der höchsten Mortalität vergesellschafteten Infektionskrankheiten, der nach offiziellen Schätzungen in Österreich jährlich 1500-2500 Menschen zum Opfer fallen (1). Die klassische Grippe („Influenza“) tritt bei uns saisonal vor allem in den Monaten Dezember bis März auf und wird durch Influenza A und B Viren hervorgerufen. Influenzaviren exprimieren an ihrer Oberfläche zwei charakteristische Proteine, das Hämagglutinin (H) und die Neuraminidase (N). Mutationen der zugrunde liegenden Gene führen zur Modifikation der oberflächlichen Proteinstruktur und dadurch zu kleinen Veränderungen der Influenzaviren, die dann zu den jährlichen Epidemien führen. Für die Impfstoffherstellung werden deshalb immer die spezifischen HN Epitope der vorangegangenen Saison herangezogen. Insgesamt wurden bisher 15 H und 9 N Subtypen entdeckt. Diese können sich theoretisch allesamt rekombinieren, was meist durch Vermischung von humanen Influenzaviren (z.B. H2N3) und Influenzaviren von Enten, Gänsen oder Hühnern (z.B. H1N9) in Schweinen geschehen kann. Es kann dadurch ein neues Virus entstehen (z.B. H2N9), das dann zu einer sogenannten Pandemie führen kann, einer weltumspannenden Infektion, wobei das Virus auf eine immunologisch naive Bevölkerung trifft, mit fatalen Folgen, wie sie z.B. bei der Spanischen Grippe (H1N1) in den Jahren 1918-1920 mit geschätzten 20-30 Millionen Toten weltweit offenkundig wurden.
Während das Protein H zur Andockung des Virus an Nasen-, Rachen- und Bronchialepithelzellen benötigt wird (Zellrezeptor: Sialinsäure), dient das Protein N dazu, in Bronchialepithelzellen neu gebildete Viren durch Spaltung der Sialinsäure-H-Bindung freizusetzen, wodurch die Infektion durch diese neuen Viren fortgesetzt werden kann. An diesem Punkt setzen Neuraminidasehemmer an, die die Freisetzung des Virus von den Epithelzellen und damit die Fortsetzung der Infektionskaskade blockieren. In Österreich sind derzeit zwei Neuraminidasehemmer für die Therapie der Influenza A und B zugelassen: Zanamivir (Relenza), das schon einmal ausführlich besprochen wurde (siehe Pharmainfo XV/4/2000), und Oseltamivir (Tamiflu), das zusätzlich auch zur Influenza-Prophylaxe zugelassen ist.
Oseltamivir ist in Österreich in Kapselform oder als Saft erhältlich. In klinischen Studien führte die Einnahme von Oseltamivir innerhalb von 48 Stunden nach Symptombeginn zu einer Verkürzung der Fieberdauer um 1-1,5 Tage sowie zu einer 20-40%-igen Reduktion der Intensität Influenza assoziierter Symptome wie Gelenks- und Muskelschmerzen, Husten, Kopfschmerzen oder bei Kindern Otitis media (2-5). Bei frühzeitiger Einnahme des Medikamentes kommt es zu einer Verbesserung dieses Therapieerfolges und zu einer raschen Unterbrechung der Infektionskette (3,5). Aus diesen Gründen werden Neuraminidasehemmer von Fachgesellschaften, wie der Paul Ehrlich Gesellschaft, als Mittel der Wahl zur Therapie der Influenza empfohlen (6).
Als häufigste Nebenwirkungen der Therapie mit Oseltamivir wurden Übelkeit und Erbrechen in 14-18% der Fälle im Vergleich zu Placebo (3-7%) beschrieben (4).
Nicht ausreichend untersucht ist bisher die Frage, ob die Therapie mit Neuraminidasehemmern auch zu einer Reduktion der Sekundärkomplikationen und/oder zu einem Überlebensvorteil führt. Eine retrospektive Analyse an 3564 Patienten/innen, die insgesamt 10 placebo-kontrollierte, doppelblinde Studien einschloss, ergab, dass Oseltamivir das Auftreten von antibiotika-therapiepflichtigen tiefen Atemwegsinfektionen bei Patienten/innen mit erhöhtem Risiko (eine genaue Definition der Risikofaktoren ist der Arbeit leider nicht zu entnehmen) von 19% (Placebo) auf 12% (Verum; p=0,02) reduziert (7). Eine Aussage hinsichtlich Mortalitätsreduktion konnte nicht gemacht werden, da kein/e Patient/in im Rahmen dieser Studie verstarb (7).
Dieselbe Studie zeigt auch, dass ein klinischer Effekt von Oseltamivir nur bei nachgewiesener Influenza, nicht aber bei grippalen Infekten anderer Genese beobachtet werden konnte. Deshalb sollte bei der Entscheidung für diese Therapie die Influenzadiagnose gesichert sein (bekannte Epidemie in der Region; typische klinische Symptomatik und evtl. Schnelltest aus Rachen-/Nasenabstrich v.a. am Beginn der Influenzasaison). Eine pharmako-ökonomische Studie stellte fest, dass der empirische Einsatz von Oseltamivir bei nicht geimpften Patienten/innen über 65 Jahre kosteneffektiv ist (8), während bei allen anderen Patienten/innen die Diagnose vorher gesichert werden sollte (8).
Trotzdem fehlen bisher ausreichende Daten zur Effektivität dieser Substanz hinsichtlich der Reduktion von Sekundärkomplikationen bei kritisch kranken Patienten/innen oder Patienten/innen mit chronischen Atemwegserkrankungen, welche allesamt ein erhöhtes Komplikations- und Mortalitätsrisiko bei Influenza aufweisen (1,9).
Zwar wurden immer wieder vereinzelte Mutationen der Neuraminidase beschrieben, diese scheinen aber bisher nicht klinisch relevant zu sein (10). Von immanenter gesundheitspolitischer Bedeutung wird die Klärung der in absehbarer Zukunft auf uns zukommenden Frage sein, wie effektiv Neuraminidase-Inhibitoren in der Behandlung neu aufgetretener Influenzaviren (Pandemie) sind.
Neben der therapeutischen Anwendung ist Oseltamivir auch für die Prophylaxe der Influenza A und B Infektion zugelassen. Eine einmal tägliche Gabe von 75 mg Oseltamivir über sechs Wochen während einer Influenzasaison führte zur Reduktion des Risikos an einer Influenza zu erkranken von 4,8% (Placebo) auf 1,3% (Verum; p<0,01), was einer Verminderung des Erkrankungsrisikos um 74% entspricht (11). Die beobachteten Nebenwirkungen in dieser Studie entsprachen mit 12-14% Übelkeit versus 2-4% (Placebo) den Erfahrungen mit der therapeutischen Verwendung von Oseltamivir (4). In einer prospektiven, placebo-kontrollierten, doppelblinden Studie konnte ferner gezeigt werden, dass die Einnahme von Oseltamivir unmittelbar beginnend mit dem Auftreten eines Influenzafalles innerhalb einer Familie die weiteren Angehörigen zu 89% vor einer Infektion mit Influenzaviren schützt und somit in der Postexpositionsprophylaxe wirksam ist (12).
Allerdings ist zu bemerken, dass diese Möglichkeit der medikamentösen Prophylaxe die Impfung nicht ersetzen kann. Die jährliche Influenzavakzinierung ist immer noch die effektivste, kostengünstigste und einfachste Methode einer Influenza vorzubeugen. Auch bei Patienten/innen über 75 Jahre reduzierte die Impfung die Influenza assoziierte Mortalität um 83% (13). Deshalb sollte die medikamentöse Prophylaxe mit Oseltamivir während Epidemiezeiten nur für Personen verwendet werden, die nicht geimpft werden können (z.B. Hühnereiweißallergie) oder bei denen keine ausreichende Antikörperantwort zu erwarten ist (immunosupprimierte Patienten/innen).
Zusammenfassung: Oseltamivir führt bei frühzeitiger Einnahme (innerhalb von 48 Stunden nach Symptomenbeginn einer Influenza) zu einer Reduktion der Fieberdauer um 1-1,5 Tage und zu einer signifikanten Abschwächung von Influenza assoziierten Symptomen. Die häufigsten Nebenwirkungen sind gastro-intestinale Störungen. Zukünftige Studien müssen die Effektivität dieser Substanz hinsichtlich der Reduktion von Sekundärkomplikationen (v.a. bei Risikopatienten/innen)und der Influenza assoziierten Mortalität klären.Der prophylaktische Einsatz von Oseltamivir sollte für Risikogruppen reserviert sein und ist kein Ersatz für die jährliche Impfung.
Literatur:
(1) JAMA 289,179,2003
(2) Lancet 283,1016,2000
(3) Pediatr Infect Dis 20,127,2001
(4) JAMA 283,1016,2000
(5) Cochrane Database Syst (3) CD 002774,2003
(6) Chemother 12,1,2003
(7) Arch Intern Med 163,1667,2003
(8) Ann Intern Med 139,321,2003
(9) Am J Resp Med 1,85,2002
(10) J Antimicrob Chemoth 53,133,2004
(11) NEJM 341,1336,1999
(12) JAMA 285,748,2001
(13) BMJ 329,660,2004
Heparin-Therapie außerhalb von Krankenhäusern
Christoph Pechlaner (Univ. Klinik f. Innere Medizin, Medizinische Universität Innsbruck)
Das Verkaufsvolumen der Heparine hat sich zwischen 1990 und 2000 weltweit verzehnfacht (1). In Österreich zugelassen sind unfraktionierte Heparine (UFH: Heparin "Immuno") und die niedermolekularen Heparine (NMH: Clivarin, Fragmin, Fraxiparin, Innohep, Ivor, Lovenox, Sandoparin). Der Einsatz der Heparine beschränkte sich anfangs auf hospitalisierte Patienten/innen, vor allem postoperativ. Der Großteil der Indikationsausweitungen betrifft niedermolekulare Heparine und Patienten/innen außerhalb von Krankenhäusern.
Notfälle
Für die typischen Notarzteinsätze (Herzinfarkt/akutes Koronarsyndrom und massive Lungenembolie) bleibt unfraktioniertes Heparin das Mittel der Wahl, auch für Herzinfarkte mit ST-Hebung. Mit Enoxaparin (Lovenox) wurden zwar weniger Reinfarkte als mit unfraktioniertem Heparin beobachtet (kombiniert mit Tenecteplase in der ASSENT-3-PLUS-Studie: 2), dieser Vorteil wurde aber durch eine höhere Rate an intrakraniellen Blutungen wieder ausgeglichen. Zu einem ähnlichen Ergebnis war eine Metaanalyse früherer Studien gekommen (3).
Langzeit-Prophylaxe nach Beinvenenthrombose
Tiefe Beinvenenthrombose: Mehrere kontrollierte Studien (3a) sprechen für eine gleich wirksame Prophylaxe von Thromboserezidiven verglichen mit Cumarinen (Marcoumar, Phenprocoumon, Sintrom), mit vergleichbarem Blutungsrisiko. Diese Studien waren überwiegend klein. Untersucht wurden Dalteparin (Fragmin), Nadroparin (Fraxiparin) und Enoxaparin (Lovenox). Für niedermolekulare Heparine kann z.B. eine Kontraindikation gegen Cumarine sprechen.
Akute symptomatische Thrombophlebitis der unteren Extremität heilte in einer kontrollierten Vergleichsstudie mit 10-tägigem Enoxaparin (Lovenox) signifikant rascher als mit Placebo, aber nicht schneller als mit einem nicht-steroidalen Antiphlogistikum (4). Alle Patienten/innen erhielten auch Kompressionsstrümpfe.
Reisethrombose
Angesichts des riesigen potentiellen Marktes überrascht das hohe öffentliche Bewusstsein nicht; allein am Flughafen London Heathrow landen monatlich 1 Million Langstreckenreisende. Der Nachweis steht noch aus, dass stundenlange Reisen mit dem Flugzeug oder anderen Verkehrsmitteln mit einem bedeutsam höheren Thromboembolierisiko verbunden sind, als z.B. stundenlanges Sitzen vor Schreibtisch, Fernsehgerät oder Computer. Methodisch rigorose Vergleichsstudien zwischen medikamentösen Interventionen, inklusive niedermolekularer Heparine, und nicht-medikamentösen Maßnahmen (Kompressionsstrümpfe, Bewegung, Hydratation) wurden noch nicht präsentiert.
Eine einzige randomisierte kontrollierte Studie mit niedermolekularem Heparin liegt vor. Bei Patienten/innen mit hohem Risiko war sonographisch bei keinem/r von 82 Teilnehmern/innen nach Enoxaparin eine tiefe Venenthrombose nachzuweisen (5), nach Acetylsalicylsäure bei 3 von 84, ohne Medikamente bei 4 von 83. „Hohes“ Thromboserisiko wurde in der Publikation ebensowenig definiert wie die Selektion der Teilnehmer/innen; 20% waren für die abschließende Thromboseuntersuchung nicht verfügbar (Drop-Outs); Kompressionsstrümpfe wurden nicht angewandt.
Eine günstige Nutzen-Risiko-Relation für niedermolekulare Heparine erscheint am ehesten noch für Reisende mit hohem Thromboembolierisiko und einer Flugdauer über 8 Stunden belegt (6). Bei Langzeitreisenden liegt das Risiko einer Pulmonalembolie bei 1,5 pro Million, während bei kürzeren Reisen dies nur 0,01 pro Million beträgt (6).
Postoperative Thromboseprophylaxe nach Krankenhausentlassung
Orthopädische Eingriffe wie Hüft- oder Kniegelenksersatz betreffen die größte und homogenste Patienten/innengruppe mit hohem postoperativen Thromboembolierisiko. Prophylaxe mit verschiedenen niedermolekularen Heparinen senkt das Thromboembolierisiko gegenüber Placebo auf ein Viertel, z.B. das Risiko einer proximalen Beinvenenthrombose von 15-25% auf 5-6% (7,8). Eine Reihe von kontrollierten Studien und Metaanalysen fanden eine nochmalige Drittelung des Thromboembolierisikos, wenn die postoperative NMH-Gabe statt der empfohlenen Mindestdauer von 7-12 Tagen um ein zusätzliches Monat verlängert wurde (9). Allerdings ist die absolute Risikoreduktion der klinisch relevanten Ereignisse (symptomatische Thrombosen oder Embolien) mit verlängerter NMH-Gabe klein, z.B. 1,1% verglichen mit 2,7% (8).
Andere Hochrisiko-Eingriffe, z.B. ausgedehnte Tumorresektionen, betreffen deutlich kleinere Fallzahlen. Für diese Patienten/innen fehlt eine solide Evidenzbasis, sowohl für Risikoeinschätzung, als auch für die optimale Dauer der postoperativen Thromboseprophylaxe. Nach Tumoroperationen in Abdomen und Becken war dreiwöchige zusätzliche Gabe von Enoxaparin (Lovenox) mit weniger Thromboembolien assoziiert, verglichen mit 6- bis 10-tägiger Verabreichung, und zwar 4,8% verglichen mit 12,0% für die Gesamtperiode (10). 24 der 28 thromboembolischen Ereignisse waren auf den Unterschenkel begrenzt (distale Beinvenenthrombosen).
Onkologische Erkrankungen
Malignome und zytotoxische Chemotherapie sind mit überdurchschnittlichem Thromboembolierisiko assoziiert. Relative Risikoschätzungen reichen von 4- bis 100-facher Erhöhung, was angesichts der Heterogenität von Tumortyp, Ausdehnung und zusätzlichen Komorbiditäten nicht überrascht. Experimentelle Daten weisen immer wieder auf tumorhemmende Effekte sowohl von Heparinen, als auch von Cumarinen hin. Bei Tumorpatienten/innen mit klinisch bedeutsamer venöser Thrombose oder Embolie war eine sechsmonatige Behandlung mit Dalteparin (Fragmin) im Vergleich zu oraler Antikoagulation mit weniger Beinvenenthrombose-Rezidiven assoziiert, und zwar 4,2% verglichen mit 11,0%(11); Lungenembolierezidive und Gesamtmortalität (40%) unterschieden sich nicht.
Somit sind die geprüften NMH zumindest eine gleichwertige Alternative zu Cumarinen. Die Wahl im konkreten Einzelfall wird somit von Abwägungen individueller Verträglichkeit, Compliance und Kosten abhängen.
Immobilisierung nach Trauma
Auch bei Immobilisierung der unteren Extremität nach Trauma hat sich Thromboseprophylaxe mit niedermolekularen Heparinen eingebürgert. Eine randomisierte verblindete Vergleichsstudie liegt für Reviparin (Clivarin) vor (12), bei Patienten/innen mit mindestens fünfwöchiger Schienung nach Frakturen. Phlebographisch nachgewiesene Beinvenenthrombosen fanden sich bei 19% (35/188) in der Placebogruppe, im Gegensatz zu 9% (17/183) in der Reviparin-Gruppe; Inzidenz von Blutungen oder anderer Ereignisse unterschied sich nicht signifikant.
Schwangerschaft mit erhöhtem Thromboembolierisiko
Schwangerschaft mit zusätzlichen Risikofaktoren für venöse Thromboembolie wird weit verbreitet als Indikation für Prophylaxe mit NMH akzeptiert. Diese Indikation steht auf einer dünnen Evidenzbasis, betrifft aber eine besonders sensible Patientinnengruppe.
Bei venöser Thromboembolie in der Vorgeschichte bleibt mangels kontrollierter, methodisch rigoroser Vergleichsstudien unbekannt, ob Routine-Prophylaxe mit NMH mit einer überlegenen Nutzen-Risiko-Relation assoziiert ist, vor allem verglichen mit Kompressionsstrümpfen allein oder niedrigdosierter Acetylsalicylsäure (13).
Schon allein die Inzidenz von Thromboserezidiven während der Schwangerschaft ist unscharf definiert. In der jüngsten prospektiven Fallserie (14) erlitten 3 von 125 Schwangeren (nach früherer Thromboembolie) ein präpartales Rezidiv; das sind 2,4% mit einem Konfidenzintervall zwischen 0,2% und 6,9%.
Thrombophilie bezeichnet üblicherweise eine heterogene Gruppe von Risikofaktoren für venöse Thromboembolie. Die Diskussion der letzten zehn Jahre fokussiert vor allem auf Laborparameter, z.B. Phospholipidantikörper, Defekte von Antithrombin III oder des Protein-C-Systems. Klinische Risikofaktoren haben bei Schwangeren deutlich weniger Beachtung erfahren, z.B. Alter über 35, Übergewicht, Immobilität oder eine positive Familienanamnese. Bei Schwangeren mit Thrombophilie ohne bisherige Thromboembolie, aber einer positiven Familienanamnese, wurden retrospektiv 2 von 169 Schwangerschaften durch eine Thrombose kompliziert (15).
Kontrollierte Studien zu Nutzen und Risiken einer Heparinprophylaxe bei Frauen mit Thromboembolie-Risikofaktoren fehlen (13,16,17). Somit ist bei Schwangeren ungeklärt, ob und in welchem Ausmaß die angeführten Risikomarker Entscheidungen zur NMH-Prophylaxe beeinflussen sollen.
Das Wochenbett (4-6 Wochen postpartal) ist mit einem höheren Thromboembolierisiko assoziiert als die gesamte Schwangerschaft (18). Aber auch für das Wochenbett fehlen kontrollierte Untersuchungen zu Nutzen und Risiken der Heparin-Prophylaxe, die eine routinemäßige Anwendung von Heparinen rechtfertigen würden.
Fehlgeburten
Heparine werden bei Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch eingesetzt, vor allem nach rezidivierenden Aborten, intrauterinem Fruchttod, aber auch nach Präeklampsie. Allerdings ist keines der Heparine für diese Indikationen zugelassen. Für einen Nutzen sprechen eine plausible Pathophysiologie (plazentare Thrombosierung), eine Reihe von unkontrollierten Fallserien und kleine kontrollierte Studien an selektierten Patientinnen.
Enoxaparin (Lovenox) war gegenüber Acetylsalicylsäure in einer rezenten randomisierten Vergleichsstudie deutlich überlegen (19): mit Enoxaparin wurden 69 von 80 Schwangerschaften mit einer normalen Lebendgeburt abgeschlossen, verglichen mit nur 23 von 80 mit Acetylsalicylsäure. Untersucht wurde eine hochselektierte Patientinnengruppe mit mindestens einem unerklärlichen Abortus nach der 10. Schwangerschaftswoche und mit mindestens einem von drei Laborparametern (Faktor V-Leiden-Mutation, Prothrombinmutation 20210A oder Protein-S-Defekt). Diese ungewöhnliche Selektion folgte einer rezenten Metaanalyse (20), die genau diese thrombophilen Laborparameter als Risikofaktoren für rezidivierende Fehlgeburten beschrieben hatte. Wieweit diese Selektion in die Praxis übertragen werden kann, bleibt noch offen.
Ein frühere kontrollierte Studie an 90 Schwangeren fand ebenfalls Heparin der Acetylsalicylsäure überlegen (21). Nach Gabe von unfraktioniertem Heparin, kombiniert mit Acetylsalicylsäure, kam es bei 32 von 45 Schwangerschaften zu einer Lebendgeburt; mit Acetylsalicylsäure alleine nur bei 19 von 45. Eingeschlossen waren Frauen mit drei oder mehr Fehlgeburten und persistierend positiven Phospholipidantikörpern. Bei derselben Patientinnengruppe schien Nadroparin (Fraxiparin) kombiniert mit Acetylsalicylsäure wirksamer als intravenöse Immunglobuline, gemessen an 16 Lebendgeburten bei 19 Nadroparin-Behandelten, verglichen mit 12 von 21 mit Acetylsalicylsäure, p=0,06 (22). Keinen Unterschied zwischen niedermolekularem Heparin und Acetylsalicylsäure fand die randomisierte Vergleichsstudie von Farquharson (23); bei 98 Schwangeren mit rezidivierenden Fehlgeburten und persistierenden Phospholipidantikörpern war die Lebendgeburtenrate vergleichbar, 78% bzw. 72%.
Risiken der Heparine
Blutungen sind mit jedem Antikoagulans wahrscheinlicher, auch mit Heparinen.
Lokale Unverträglichkeitsreaktionen an den subcutanen Einstichstellen sind in milder Intensität häufig zu beobachten. In Einzelfällen wurden aber auch Nekrosen berichtet.
Schwere systemische Reaktionen umfassen Anaphylaxie und Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ 2 (HIT-2). HIT-2 mit Thrombose tritt bei 1% der Patienten/innen auf, die länger als 5 Tage mit unfraktioniertem Heparin behandelt werden. Mit niedermolekularen Heparinen tritt HIT-2 wahrscheinlich 8-10mal seltener auf (24). Diese epidemiologischen Daten sind unsicher, nicht zuletzt wegen unscharfer HIT-2-Diagnosekriterien. Ein praktikabler, objektiver Goldstandard-Test steht noch nicht zur Verfügung.
Osteoporotische Frakturen sind auch während NMH-Gabe beschrieben worden, mit niedrigerer Inzidenz als mit UFH.
In Assoziation mit Heparinbehandlung wurden weiters beschrieben: Haarausfall, Eosinophilie, Hyperaldosteronismus mit Hypokaliämie, Anstieg von Leberenzymen und Ansteigen freier Schilddrüsenhormone.
Problematisches Drug-Monitoring und Antagonisierung: Therapie mit NMH kann mit keinem Labortest verlässlich überwacht werden (antithrombotische Wirksamkeit einerseits, Blutungsrisiko andererseits), im Gegensatz zum unfraktionierten Heparin, wo sich die aPTT bewährt. Dies ist besonders problematisch bei Patienten/innen mit Niereninsuffizienz: alle Heparine werden fast ausschließlich renal eliminiert. Für NMH fehlt ein wirksames, sicheres Antidot.
Zusammenfassung
Indikationen: Bemühungen um weitere Indikationsausweitungen sind klar ersichtlich. Zu den am besten definierten Indikationen im niedergelassenen Bereich kann man die verlängerte postoperative Prophylaxe nach Hochrisikoeingriffen zählen, weiters ausgedehnte Thromboembolie bei onkologischen Patienten/innen, sowie Thromboseprophylaxe bei Kontraindikation gegen Cumarine.
Zugelassene Anwendungsgebiete sind unscharf definiert, z.B. „Prophylaxe thromboembolischer Komplikationen“, „bei Patienten/innen mit mittlerem Thromboembolierisiko“. Mit derart vager Indikation könnte man z.B. auch flächendeckende Gabe ab dem 50. Lebensjahr begründen, weil in der Allgemeinbevölkerung das Thromboembolierisiko zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr um den Faktor 100 zunimmt.
Alternativen: Die Relation von Risiken, Nutzen und Kosten ist in den übrigen Indikationsausweitungen noch nicht geklärt, vor allem gegen den Goldstandard Cumarin-Antikoagulation. Die Effektivität nicht-pharmakologischer Interventionen fand in den letzten Jahren wenig wissenschaftliche Beachtung, z.B. frühe Mobilisierung, Kompressionsstrümpfe, Gewichtsabnahme, körperliche Aktivität.
Heparin-Applikation ist nicht risikofrei. Komplikationen können lebensgefährlich sein, wenn auch sehr selten: HIT-2 und Allergie.
Alle Heparin-Präparate werden aus dem Ausgangsmaterial Schlachtviehmucosa hergestellt. Die verschiedenen Herstellungsprozesse führen aber zu Unterschieden in den strukturellen, biochemischen und pharmakologischen Eigenschaften der einzelnen Heparin-Präparate. Dies begründet die Forderung, dass Indikationszulassungen und Risiken durch spezifische Untersuchungen mit jedem einzelnen Präparat gesondert zu definieren sind. Die meisten Studien liegen für Lovenox, Fragmin und Fraxiparin vor.
Literatur:
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(22) Arthritis Rheum 48,728,2003
(23) Obstet Gynecol 100,408,2002
(24) Semin Hematol 35,9,1998
P.b.b. Erscheinungsort Verlagspostamt 1010 Wien
Montag, 20. Dezember 2004
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