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Von der Erbse bis zur modernen genetischen Medizin

Am 20. Juli 2022 wäre Gregor Mendel 200 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veröffentlichte Johannes Zschocke, Direktor des Instituts für Humangenetik mit Kollegen im Fachjournal Nature Reviews Genetics zwei Artikel, die eine Brücke schlagen von den Konzepten Mendels zur genetischen Medizin im Zeitalter der Genomsequenzierung. Die Texte geben Einblick in die molekularen Grundlagen der „Mendel‘schen“ Erbgänge und die Frage, wie sich Krankheiten aus genetischen Varianten ableiten lassen.

In einem umfassenden Essay, der in der Geburtstagsausgabe im Juli 2022 erschien, erläutern Johannes Zschocke und seine renommierten Kollegen Peter H. Byers (University of Washington, Seattle) und Andrew O.M. Wilkie (University of Oxford), dass der Brünner Augustiner-Mönch Mendel die von ihm geprägten Begriffe ,dominant‘ und ,rezessiv‘ anders verstanden hat – speziell im Blick auf erbliche Krankheiten – als die Medizin seit Anfang des 20. Jahrhunderts bzw. die Biologiebücher unserer Schulen. „Im 19. Jahrhundert war die Vorstellung einer quantitativen ‚biometrischen‘ Vererbung vorherrschend, also eine gleichmäßige Mischung der Erbanlagen seiner Vorfahren. Mendel beobachtete in seinen Züchtungsexperimenten, dass bei der Kreuzung von (reinerbigen) Erbsenpflanzen, die sich in bestimmten Merkmalen konstant unterscheiden, manche Merkmale in den gemischten „Hybriden“ völlig verschwinden, aber in nachfolgenden Generationen nach klaren Gesetzmäßigkeiten wieder auftauchen. Mendel folgerte, dass die erblichen Merkmale in einem Organismus paarweise vorliegen und getrennt voneinander weitergegeben werden. Die Merkmale, die in den Hybriden bestehen bleiben, bezeichnete er als dominant, die Merkmale, die verschwinden, als rezessiv“, erklärt der Institutsdirektor die wesentlichen Erkenntnisse, die Mendel am 8. Februar und 8. März 1865 im Naturforschenden Verein in Brünn vorstellte. „Bewusst ignoriert hat Mendel dabei Merkmale, welche sich in den Hybriden als Mischung der beiden unterschiedlichen Reinformen ausprägten. Der in den Schulbüchern als intermediär bezeichnete Erbgang geht also nicht auf Mendel zurück.

Die biologischen Grundlagen des von ihm beobachteten Phänomens waren Mendel allerdings völlig unklar. Das für uns selbstverständliche Konzept, dass ein spezifisches Merkmal (der Phänotyp) durch die vererbte genetische Information (den Genotyp) bestimmt wird, war jenseits seiner Vorstellungsmöglichkeit“, erläutert Zschocke. Dieses Konzept entstand erst mit der Entdeckung der Chromosomen um 1900. Erst als man feststellte, dass das Erbgut in Form von Chromosomenpaaren vorliegt, wurde Mendel richtig entdeckt und als Gründungsvater der wissenschaftlichen Vererbungslehre gewürdigt. Sehr bald wurden die Mendel‘schen Begriffe auch auf erbliche Krankheiten des Menschen angewandt. Dominant wird in der Medizin allerdings anders definiert, als von Mendel: „Dominante Krankheiten werden durch heterozygote Mutationen verursacht, das heißt durch genetische Veränderungen, die auf einem der beiden Exemplare eines Gens vorliegen. Wenn solche Mutationen homozygot – also auf beiden Genexemplaren – vorliegen, sind die klinischen Folgen meist sehr viel schlimmer oder gar nicht mit dem Leben vereinbar. Im Gegensatz dazu waren die von Mendel betrachteten dominanten Merkmale in den Hybriden und einer der beiden reinerbigen Pflanzen ident“, erklärt Institutsleiter Zschocke. Im klinisch-genetischen Gebrauch ist die heute übliche Definition aber viel hilfreicher, und für die meisten dominanten Krankheiten ist die homozygote Form sowieso unbekannt.

Die molekularen Grundlagen der dominanten und rezessiven Vererbung, also warum eine Mutation bereits heterozygot oder erst homozygot zum Auftreten einer Krankheit führt, ist eine zentrale Frage der medizinisch-genetischen Diagnostik. In der Juli-Ausgabe dieses Jahres druckte Nature Reviews Genetics nun eine große Übersichtsarbeit, in der sich Zschocke und seine Kollegen mit diesem Aspekt der Vererbungslehre im Detail beschäftigen. „Dieser zweite Artikel ist eine umfassende Zusammenstellung der Grundlage der genetischen Medizin. Es geht um ein systematisches Verständnis der Mechanismen, durch die genetische Varianten funktionelle Auswirkungen haben, und wann man krank wird oder nicht,“ schildert Zschocke. Unterschiedliche Mutationen derselben Aminosäure im selben Gen können unterschiedlichen Erbgängen folgen. Ein wichtiger Aspekt sei die Unterscheidung zwischen quantitativen genetischen Varianten, bei denen die Genfunktion verringert ist oder ganz fehlt, und qualitativen Varianten, bei denen neue Funktionen auftreten, andere Funktionen gestört werden, oder Teilfunktionen fehlen. Darüber hinaus spielen auch zufällige Mutationen gerade in der Krebsentstehung eine wichtige Rolle.

Genetische Variabilität hat auch etwas mit der Anpassung an die Umwelt zu tun, die Vor- und Nachteile haben kann. Sie ist auch die Basis der Evolution, die beim Menschen weiterhin stattfindet. Mendel hat die Grundlage der heutigen Genetik geschaffen, indem er das paarweise Vorliegen der erblichen Merkmale wissenschaftlich erkannte. Seine Beobachtungen und die sich daraus ergebenden Fragestellungen haben immer noch in der Gegenwart Bestand. „Wir haben alle Methoden, die man braucht, um das gesamte Erbgut in allen Aspekten lesen zu können,“ erläutert Zschocke. Die zentrale Herausforderung sei es jetzt, die vielen Millionen genetischen Varianten, die wir alle tragen, und deren funktionelle Bedeutung wir bisher meist nicht kennen, besser zu verstehen, „Die wichtigen Fragen sind: Welchen Effekt hat eine genetische Veränderung für den Menschen? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Diagnose, Prognose und Therapie? Welche Bedeutung hat der Befund für andere Verwandte? Ausgehend von den Begriffen dominant und rezessiv gibt die jetzt publizierte Übersichtsarbeit einen konzeptionellen Rahmen, wie man sich diesen Fragen nähern kann.“ Die beiden Beiträge sind auch ein Ausdruck der hohen klinisch-wissenschaftlichen Kompetenz der Innsbrucker Humangenetik, die international weit über Österreich hinaus wahrgenommen wird.

(Innsbruck, 9. August 2023, Text: red., Bilder: AdobeStock, MUI/Bullock)

Referenzen:

Zschocke, J., Byers, P.H. & Wilkie, A.O.M. Gregor Mendel and the concepts of dominance and recessiveness. Nat Rev Genet 23, 387–388 (2022). https://doi.org/10.1038/s41576-022-00495-4

Zschocke, J., Byers, P.H. & Wilkie, A.O.M. Mendelian inheritance revisited: dominance and recessiveness in medical genetics. Nat Rev Genet 24, 442–463 (2023). https://doi.org/10.1038/s41576-023-00574-0

 

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