Frühgeborene: Besserer Schutz des Gehirns
Im Rahmen des EU-Projektes NEOBRAIN gehen Wissenschaftler der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde gemeinsam mit der Innsbrucker Biocrates Life Sciences GmbH und zwölf weiteren internationalen Partnern den Fragen nach, wie man mögliche Gehirnschädigungen bei Frühgeborenen bereits sehr frühzeitig erkennen kann, wie entsprechende Therapien aussehen könnten und welche Art von Medikamenten hilfreich wären.
Durch den medizinischen Fortschritt konnte die Säuglingssterblichkeit erheblich reduziert werden. Damit geht aber auch einher, dass die Zahl der überlebenden Frühgeborenen ständig ansteigt. Jedes zehnte Kind kommt heute zu früh auf die Welt. Da gerade das Gehirn sich am Ende der Schwangerschaft in der entscheidenden Phase seiner Entwicklung befindet, kann eine zu frühe Geburt eine gestörte oder veränderte Gehirnentwicklung zur Folge haben. Dies kann später zu Beeinträchtigungen wie Aufmerksamkeitsstörungen und Lernschwierigkeiten und in Extremfällen sogar zu schweren Behinderungen führen. Von den rund 4 Millionen Lebendgeborenen pro Jahr in der EU weisen 60.000 Frühchen eine Hirnschädigung auf. Ganz abgesehen von den Sorgen, die Eltern und Angehörige mit ihren zu früh geborenen Kindern begleiten, hat die steigende Anzahl von Frühgeborenen auch ökonomische Folgen: Rund 6 bis 7 Milliarden Euro an Behandlungskosten entstehen durch die Frühgeborenen pro Jahr EU-weit. Und weil es bei der medizinischen Forschung nicht ohne weiteres möglich ist, Erkenntnisse über Hirnschäden an Erwachsenen auf Frühgeborene zu übertragen, stehen die Mediziner vor einem Problem: Es gibt weder einen Marker zur frühen Diagnose von Hirnschädigungen noch eine Therapie zum Schutz des Gehirns.
Neue Forschungsansätze
Genau hier setzt das EU-Projekt NEOBRAIN (Neonatal Estimation Of Brain Damage Risk And Identification of Neuroprotectants) an. In dem dreijährigen Forschungsprojekt sollen Biomarker für frühe Hirnschäden gefunden werden. In verschiedenen Tierversuchen werden hierzu die Mechanismen erforscht, die zu einer Gehirnschädigung führen. Außerdem sollen anhand einer klinischen Studie von Kindern, die vor der 28. Woche geboren wurden, Marker-Profile erstellt werden. Weiters sollen Strategien entwickelt werden, um das Gehirn zu schützen. Auch hier werden zu Beginn Tierversuche gemacht werden. Nur die viel versprechendsten Ergebnisse sollen Eingang in den klinischen Bereich finden. Die Schaffung einer klinischen Plattform als Forschungsnetzwerk soll künftige europäische und internationale Studien ermöglichen. Darüber hinaus wird die Entwicklung von Medikamenten angestrebt. Ergebnisse der perinatalen Grundlagenforschung werden somit künftig direkt in die klinische Forschung einfließen. Und die so gewonnen neuen Erkenntnisse und Therapieansätze sollen sehr rasch auch in die klinische Praxis bei der Neugeborenen-Intensivmedizin eingeführt werden.
Internationale Partner
Beim EU-Projekt arbeiten kleinere und mittlere Unternehmen mit Industrie und Forschungsgruppen zusammen. Die Wissenschaftler der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde sind vernetzt mit der Innsbrucker Biocrates Life Sciences GmbH und Partnern an anderen Universitäten in Europa. Die enge Zusammenarbeit zwischen europäischer Spitzenforscher und mittleren und kleineren Firmen bietet die Chance, die Forschungsergebnisse auch sehr schnell zu Produkten weiter zu entwickeln. Die Publikationen, die aus dem Projekt hervorgehen, werden zudem die neuen Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Anwendungen international bekannt machen. Gerade in diesem Bereich der Verbreitung der Ergebnisse nimmt Innsbruck eine zentrale Rolle bei diesem EU-Projekt ein: Hier werden die Fäden zusammenlaufen, denn die Patentsichtung und die Presseinformation wird hier an der Medizinischen Universität koordiniert, erklärt Dr. Matthias Keller, der Innsbrucker Forschungsleiter.
Innsbrucker Nachwuchsforscher erfolgreich
Dr. Matthias Keller forscht an der Abteilung für Neu- und Frühgeborene der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Er untersucht Möglichkeiten, bereits entstandene Hirnschäden zu beheben. Dazu verabreichte sein Team im Tierversuch Mäusen Substanzen, die Knochenmarkstammzellen stimulieren, um eine Steigerung der Stammzellfreisetzung zu bewirken Dadurch soll der Organismus des Frühgeborenen dabei unterstützt werden, die Schädigungen am Gehirn selbstständig zu reparieren. Im Tierversuch zeigte sich, dass die Gabe der stimulierenden Substanzen einen bereits vorhandenen Hirnschaden um 30 bis 50 Prozent reduzieren kann. Jetzt will sich Dr. Keller damit auseinandersetzen, inwieweit die regenerierten Nervenzellen auch eine normale neurologische Funktion besitzen. Also die Fähigkeit, Verbindungen untereinander herzustellen. Dabei muss natürlich auch überprüft werden, ob eine solche Behandlung der weiteren Gehirnentwicklung zuträglich ist.
Starker Tiroler Wirtschaftspartner
Als Industriepartner hat sich das Biotechnologie-Unternehmen Biocrates Life Sciences an diesem speziell für kleine und mittlere Unternehmen ausgeschriebenen EU-Projekt beteiligt und finanziert aus eigenen Mitteln die Hälfte des Innsbrucker Projektvolumens. Biocrates als weltweiter Vorreiter der massenspektrometrischen Stoffwechselanalytik (Metabolomics) profitiert dabei von der engen Vernetzung mit herausragenden akademischen und klinischen Forschungsgruppen in ganz Europa. Zudem eröffnen sich mittelfristig neue Märkte im Bereich der klinischen Diagnostik und Theranostik, die weiter zum Wachstum der Biocrates (allein in diesem Jahr wurden 12 internationale Spitzenkräfte eingestellt) beitragen werden.
Medizinstandort Tirol
Die Innsbruck Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde sichert sich mit NEOBRAIN die bestmögliche Behandlung von perinatalen Hirnschäden. Sie wird als eines der ersten Mitglieder der Projektgruppe über eine Datenbank für frühgeborene Patienten verfügen und kann auch in der medizinischen Aus- und Weiterbildung punkten, weil führende Forscherinnen und Forscher ihr Wissen direkt weitergeben werden. Ein Aspekt der auch für den Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck, Prof. Clemens Sorg besonders wichtig ist: Es ist unser Ziel an der Medizinischen Universität für Nachwuchswissenschaftlern einen entsprechenden Rahmen zu bieten, der besonders auch Klinikern die Möglichkeit eröffnet, verstärkt wissenschaftlich zu arbeiten, da die so gewonnenen Erkenntnisse sehr schnell Eingang in die klinische Praxis finden und damit unmittelbar der Krankenversorgung zu Gute kommen. Durch NEOBRAIN können sich somit Tirol, seine Medizinische Universität und Biocrates einmal mehr international in Wissenschaft und Lehre aber auch besonders in der Patientenversorgung positionieren. Darüber hinaus bieten die Ergebnisse des EU-Projektes auch ökonomische Perspektiven für den Medizinstandort Tirol. Das gesamte Projektvolumen beträgt 4,4 Millionen Euro, wovon allein 1,47 Millionen für die Aktivitäten in Innsbruck budgetiert sind.